Als niedergelassener Psychiater bin ich Arzt, aber auch Inneneinrichter, Finanzcoach, Berufsberater – und zwar für mich selbst. Es gibt zwei Dinge, die für mich absolut wichtig sind, um psychisch gesund zu bleiben.
Mentale Gesundheit bei niedergelassenen Ärzten? Wie soll das denn gehen? Naja, Spaß beiseite, schließlich ist das ein ernstes Thema. Aber wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir kein einziges Gespräch ein, dass ich mit einem niedergelassenen Kollegen über dieses Thema geführt habe. Kommt es vor, dass sich ein Kollege in meine Behandlung begibt? Sehr, sehr selten. Wie kommt das? Sind wir nervlich eine besonders stabile Arztgruppe oder machen wir alles mit uns selbst aus?
Seit vielen Jahren bilden wir in unserer Praxis Assistenten auf ihrem Weg zum Facharzt für Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapeutische Medizin oder Allgemeinmedizin aus. Im Laufe dieser Weiterbildung, die meist über zwei Jahre halbtags stattfindet, kommt irgendwann die Frage auf, wie es für die Kollegen weitergehen soll, wenn sie die Facharztprüfung absolviert haben. Klinikkarriere oder Niederlassung lautet die Frage. Wir supervidieren die Assistenten nicht nur in medizinischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Frage, wofür sie sich eignen.
Und da möchte ich auch in diesem Text ansetzen: Die Tätigkeit in der Praxis unterscheidet sich schon sehr von der in der Klinik. Ein paar Punkte: Die Arbeit ist deutlich gedrängter. Das heißt, dass die Zeit in der Praxis im wesentlichen Netto-Arbeitszeit ist. In der Klinik gibt es auch mal eine Fortbildung, eine Besprechung, man geht gemeinsam in die Kantine, bespricht dies und das. In der Praxis ist das eher die Ausnahme, sieht man von unseren festen Supervisionszeiten für die Assistenzärzte ab. Die Arbeit ist pro Zeiteinheit also intensiver, was mehr Konzentration und Disziplin erfordert.
Ein weiterer wichtiger Unterschied: Praxisärzte sind selbständig, das bedeutet, sie müssen selbst ihre Miete zahlen, Personal einstellen und bezahlen, die Praxiseinrichtung finanzieren, sie müssen kalkulieren, wie viel und was sie arbeiten müssen, damit sich das alles rechnet.
In der Klinik habe ich nicht viel darüber nachgedacht, woher der Kuli kommt, mit dem ich schreibe oder der Stuhl, auf dem ich sitze oder was der Kaffee kostet, den ich trinke. Ich wusste, was ich als Gehalt aufs Konto überwiesen bekomme und wie viel Urlaubsanspruch ich habe.
Niedergelassene sind ihr eigener Inneneinrichter, Headhunter, Dienstplanersteller.
Und damit kommen wir zum Thema mentale Gesundheit: Niedergelassene sind auch ihr eigener Coach und Berater. Wir müssen uns um alles erstmal alleine kümmern und das betrifft auch unsere Gesundheit.
Das soll nicht jammerig rüberkommen, ich selbst bin viel lieber niedergelassen als in der Klinik tätig. Aber für mich passt das auch. Mir ist es lieber, für alles verantwortlich zu sein, als unter einem Chef arbeiten zu müssen.
Aber die Entscheidung, in die Praxis zu gehen, will eben auch unter dem Aspekt der mentalen Gesundheit wohl überlegt sein. Man muss gerade zu Beginn der Niederlassung schon viel an Unsicherheit, Ängsten und Zweifeln aushalten. Und die Erkenntnis, dass man zwar im Studium (und in der Klinik) viel lernt, aber nicht, wie man wirtschaftet, muss auch erst mal verarbeitet werden.
Ich muss in der Lage sein, konzentriert zu arbeiten und, mit das wichtigste, ich muss schnell Entscheidungen treffen können. Wenn man alles hin und her überlegt, verbringt man schon mal den ganzen Tag in der Praxis und ist dennoch nicht mit der Arbeit fertig. Dann geht der Stress los.
Ein weiterer Punkt, der für mentale Gesundheit wichtig ist: Leben im Hier und Jetzt. Klingt philosophisch, ist es aber nicht. Wenn ich in meiner Praxis mit einem Patienten spreche, interessiert mich in diesem Moment nichts anderes. Ich denke an nichts Privates. Natürlich muss ich die Uhr im Blick behalten (die ich allerdings nach fast 25 Jahren Praxis eigentlich nicht mehr brauche, um die Zeit abzuschätzen), denn ich kann nicht mit jedem ewig reden.
Mit dieser Konzentration auf mein Gegenüber macht der Beruf aber erst richtig Spaß, das ist dann kein Stress, sondern sinnvoll verbrachte Zeit.
Wenn ich die Praxis verlasse, geht mir vielleicht noch das eine oder andere durch den Kopf, aber nicht sehr lange. Dann bin ich auch im Hier und Jetzt meines Privatlebens.
Wer das nicht schafft, wird unter Umständen Probleme bekommen, sich abzugrenzen, wird sich zu lange mit dem Beruf und zu wenig mit seiner Freizeit beschäftigen.
Und das bringt mich zu einem weiteren sehr wichtigen Punkt, wenn es um die Frage der mentalen Gesundheit geht: Wer bin ich, wenn ich nicht in der Arztrolle bin? Wer sich nur über den weißen Kittel definiert, zieht am besten gleich in die Praxis ein, zu tun gibt’s da immer was.
Aber Vorsicht: Eine Praxis kann sich zu einem gefräßigen Monster entwickeln, das seinen Besitzer erst aussaugt und dann auffrisst. Mit Praxen ist es wie mit Haustieren: Es muss immer klar sein, wer Herr und wer Hund ist und wer das Sagen hat, sonst geht es schief.
Insofern ist die Zeit außerhalb der Arztrolle für die mentale Gesundheit ganz besonders wichtig. Zwei Punkte sind da vor allem zu nennen: Soziale Kontakte und Aktivität.
Familie, Freunde, Clubleben, Party: Bei den Kontakten muss jeder das Seine finden und leben (in Corona-Zeiten sind natürlich Kollegen im Vorteil, die lieber alleine sind oder virtuelle Beziehungen pflegen). Ich selbst habe den großen Vorteil, dass meine Partnerin in der Gemeinschaftspraxis gleichzeitig meine Ehefrau ist und ich so berufliche wie private Dinge mit derselben Person besprechen kann.
Und die Aktivität? Sport ist immer gut, darüber hinaus muss auch wieder jeder seinen Weg finden. Ich selbst schreibe, blogge, fotografiere, um ein paar Dinge zu nennen. Andere machen Musik, lesen oder tanzen. Wichtig ist nur: Wenn man nach der Praxis auf dem Sofa zusammenbricht und zu nichts mehr Lust hat, ist man schon auf einem gefährlichen Weg. Nicht, dass das nicht mal vorkommen dürfte. Aber es sollte die Ausnahme sein.
Die Sorge für die mentale Gesundheit nimmt einem in der Praxis niemand ab. Aber sie ist extrem wichtig, denn wenn man krankheitsbedingt ausfällt, steht der Laden still. Die Kosten laufen weiter, aber Geld verdient man keins mehr.
Was kann ich tun, wenn es so weit gekommen ist? Ich sollte reden. Mit meinem Partner, einem guten Freund, einem Coach oder einem Therapeuten. Denn es gilt, die Faktoren ausfindig zu machen, die mich an diesen Punkt gebracht haben. Einige Fallen habe ich genannt, aber es gibt natürlich noch viel mehr. Die gefährlichste: Zu vergessen, dass neben all der Verantwortung für Patienten, Personal und Wirtschaftlichkeit ein Faktor immer mit im Boot sein muss: Die Verantwortung für mich selbst.
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