LPi-Zellen bilden im Fliegenhirn die Grundlage des Bewegungs-Antagonismus: Sie schicken ein hemmendes Signal in die Nachbarnervenbahn und helfen, zwischen verschiedenen Bewegungen zu unterscheiden. Dadurch filtern sie auch Störsignale heraus.
Bewegung ist die Änderung der Position mit der Zeit. Klingt eigentlich ganz einfach. Das Erkennen von Bewegungen ist für einzelne Lichtsinneszellen der Netzhaut jedoch eine unlösbare Aufgabe, denn sie „sehen“ jeweils nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes. Verändert sich etwas, ist unklar, ob sich das Objekt bewegt hat oder verschwunden ist. Falls es sich bewegt hat, wohin? Um eine Bewegung und ihre Richtung zu sehen, muss das Gehirn die Bildinformationen einzelner Lichtsinneszellen daher miteinander vergleichen – und zwar zeitverzögert.
Was dabei genau im Gehirn vorgeht, das entziffern Alexander Borst und sein Team am Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Die Forscher nehmen das System Zelle für Zelle auseinander und analysieren Aufbau, Verbindungen und Funktionen der einzelnen Komponenten. Sie untersuchen das Bewegungssehen am Modell der Fruchtfliege. So konnten die Wissenschaftler zeigen, dass das Gesehene bei Fliegen – wie beim Menschen – zunächst in zwei separate Verarbeitungsbahnen aufgetrennt wird: eine Bahn für helle, die andere für dunkle Kanten. Innerhalb jeder dieser Bahnen werden die Informationen dann nach ihrer Richtung sortiert und getrennt weiterverarbeitet. Im Fliegengehirn wissen die Forscher nicht nur, dass dies geschieht, sondern auch welche Zellen dazu wie verschaltet sind.
Wenn die Bewegungsrichtungen jedoch separat verarbeitet werden, warum gibt es dann den „Bewegungs-Antagonismus“? Bei Fliegen, Menschen und vielen anderen Tieren werden großflächige Nervenzellen tiefer im Gehirn durch Bewegung in „ihre“ Richtung erregt, während eine Bewegung in die Gegenrichtung diese Zellen zusätzlich hemmt. Bei einer getrennten Verarbeitung der Richtungsinformationen sollte das Hemmen der Gegenrichtung eigentlich überflüssig sein. Wie sich zeigte, entdeckten die Wissenschaftler eine entscheidende Schaltkreiskomponente, die LPi-Zellen. Dieser bis dahin unbekannte Nervenzelltyp durchbricht die strikte Ordnung der getrennten Richtungsbahnen: Die Zellen schicken die Informationen von „ihrer“ Bahn als hemmendes Signal in die Nachbarbahn, die für die gegenläufige Bewegung zuständig ist. Die Ergebnisse zeigen, dass LPi-Zellen direkt dafür verantwortlich sind, dass die großflächigen Zellen im Fliegenhirn durch Bewegung entgegen ihrer Vorzugrichtung gehemmt werden. Mit den neu entdeckten Zellen hatten die Wissenschaftler somit die zelluläre Grundlage für den Bewegungs-Antagonismus gefunden. Nun bestand erstmals die Möglichkeit, die funktionelle Bedeutung dieses Phänomens aufzuklären. Bewegungsrichtungen werden in getrennten Gehirnbereichen verarbeitet. Ein neuer Zelltyp (hier farbig) durchbricht diese Struktur und verhindert eine Fehlaktivierung durch Störsignale. © A. Nern, Janelia Research Campus
Wie die folgenden Untersuchungen zeigten, verhindern die LPi-Zellen, dass die großflächigen Zellen durch unspezifische Signale innerhalb ihres Sehfeldes erregt werden. „Fliegen sind Meister des Bewegungssehens, doch ohne LPi-Zellen könnten sie vor lauter Fehlaktivierungen kaum zwischen verschiedenen Bewegungen unterscheiden“, fasst Alex S. Mauss die Ergebnisse zusammen. Blockierten die Wissenschaftler die Funktion der LPi-Zellen, so wurden die großflächigen Zellen nun durch Bewegungsmuster, wie sie beim Vorwärtsflug entstehen, genauso erregt, wie durch Muster, die bei Drehbewegungen entstehen. Die Forscher hatten somit nicht nur den Schaltplan des Bewegungssehens in diesem Teil des Fliegenhirns restlos aufgeklärt. Sie konnten auch zeigen, wie Störsignale vom System durch einen einfachen Mechanismus herausgefiltert werden. Originalpublikation: Neural Circuit to Integrate Opposing Motions in the Visual Field Alex S. Mauss et al.; Cell, doi: 10.1016/j.cell.2015.06.035; 2015