Mehr Manneskraft, mehr Lebensqualität – immer häufiger verzichten junge Männer freiwillig auf Selbstbefriedigung. NoFap, eine Internet-Community, will sogar Krankheiten wie erektile Dysfunktion behandeln. Ein kritischer Blick auf das neue Phänomen aus den USA.
Selbst in unserer aufgeklärten Zeit ranken sich Mythen um die Masturbation. Bestes Beispiel: „Ein 16-jähriger Junge aus Brasilien stirbt, nachdem er in einer Nacht 42 Mal onaniert hat“ – die vermeintlich spektakuläre Nachricht entpuppte sich wissenschaftlich als Fake. Für Laien war es ein vermeintlicher Beweis für die Gesundheitsgefahren allzu intensiver Handarbeit. Sind wir wirklich alle aufgeklärt und wissen, dass Selbstbefriedigung weder eine „Unkeuschheit wider die Natur“ (Constitutio Criminalis Theresiana; 1768) ist noch zu schlimmen Erkrankungen wie Neurosen, Akne, Schwindsucht oder Tuberkulose führt? Und bleiben Pamphlete wie „Onania oder die abscheuliche Sünde der Selbstbeschmutzung“ (1712) Relikte dunkler Zeiten?
Die Zweifel daran häufen sich, seit im Web eine Community der besonderen Art erfolgreich ist: die „Fapstronauten“. „Fapping“ bedeutet Selbstbefriedigung – und „no fap“ steht für den strengen Verzicht. User setzen nahtlos beim Gedankengebäude mittelalterlicher und frühneuzeitlicher „Experten“ an: „Get a new grip of life“ – „Bekomme dein Leben wieder in den Griff“. Schätzungsweise 150.000 Männer – um die handelt es sich hier ausschließlich – haben drei Maximen: keine Pornos, keine Masturbation, kein Orgasmus. Davon erhoffen sich selbsternannte Jünger nicht nur „mehr Energie“ und „mehr Selbstbewusstsein“, heißt es in Foren. Sie behaupten sogar, Erektionsprobleme wirksam behandeln zu können – ganz ohne Pharmakotherapie. Immer mehr Männer schließen sich der Bewegung an. Dabei ist NoFap nicht religiös motiviert, wie man vermuten könnte, sondern verschanzt sich hinter einem theoretischen Gebäude.
Fapstronauten berufen sie sich auf Gary Wilson, einen selbst ernannten Experten und Vordenker zu gesundheitlichen Folgen der Internet-Pornographie. Auf seiner Website scheut sich Wilson nicht, seriöse Veröffentlichungen für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Ausgangspunkt ist eine knapp 15 Jahre alte Studie zur sexuellen Abstinenz von Männern. Nach drei Wochen ohne Masturbation fanden Wissenschaftler bei Probanden höhere Testosteronspiegel. Dass die Enthaltsamkeit keine Auswirkungen auf den Gehirnstoffwechsel hatte, verschweigen NoFap-Anhänger gerne. Wilson argumentiert weiter, das männliche Gehirn brauche ständig neue sexuelle Stimuli. Erregung entstünde nur durch weitere, noch härtere Pornofilme, ansonsten käme es zum Abstumpfen. Auch hier nennt der Guru eine Studie. Forscher hatten versucht, Gehirnaktivitäten und pornographische Bilder per Magnetresonanztomographie (MRT) in Korrelation zu bringen. Ihre Erkenntnis: ein Zusammenhang zwischen der Zeit, die Probanden mit pornografischem Material verbringen und der grauen Substanz. Je mehr sich Männer mit Pornografie beschäftigten, desto kleiner war das Volumen ihres Striatums. Die Autoren vermuten, dass häufiges Pornogucken unser Belohnungssystem quasi „ausleiert“. Sie nehmen an, der regelmäßige Konsum schlüpfriger Filmchen oder Bildchen erfordere immer stärkere Anreize, um noch stimulierend zu wirken. Wer häufig vor dem Rechner saß, um entsprechende Medien zu genießen, hatte eine schwächere Kommunikation zwischen Belohnungsregion und präfrontalem Kortex. Die Einschränkung: Ob es sich hier tatsächlich um ein Phänomen der neuronalen Plastizität handelt oder ob die Unterschiede schon vor dem Pornokonsum bestanden, lässt sich nur mit Verlaufsstudien untersuchen. Von Krankheitsbildern sprechen Wissenschaftler definitiv nicht. Wilson selbst sieht Zusammenhänge mit Beziehungsunfähigkeit, Depression, Einsamkeit, aber auch mit erektiler Dysfunktion. Über eine weitere Studie schreibt der Guru auf seiner Website, jeder zweite untersuchte Patient hätte Schwierigkeiten, beim Partner eine Erektion zu bekommen, während es bei Pornos funktioniere. Keine Erotik-Medien, keine Selbstbefriedigung, dafür aber mehr Manneskraft bei der Partnerin?
In der Praxis sieht die Sache recht düster aus. DocCheck fand einen ehemaligen Fapstronauten, der recht schonungslos von seinen Erfahrungen berichtete. Er selbst will nur mit seinem Alias Martin089 bezeichnet werden. Sein Alter: Anfang 30. Nach länger anhaltenden Erektionsstörungen recherchierte er wie so viele Patienten im Web – und stieß prompt auf Gary Wilsons Videos. Mehr Energie, mehr Lebensqualität – und natürlich mehr Frauen, das versprechen viele Websites und Foren der Fapstronauten. Martin089 machte die Probe aufs Exempel und verzichtete knapp drei Monate auf Pornos und auf Masturbation. Leicht war es nicht, doch in Foren geben User vermeintlich hilfreiche Tipps. Jedenfalls hielt Martin089 durch. Als er kurz darauf eine Frau kennenlernte, war die Enttäuschung umso größer: Seine Beschwerden waren unverändert, er bekam keine Erektion. Schließlich kehrte er NoFap enttäuscht den Rücken und macht weiter wie gehabt. Vielleicht profitiert er sogar gesundheitlich. Ob häufige Handarbeit das Risiko senkt, ein Prostatakarzinom zu entwickeln, ist wissenschaftlich umstritten, aber nicht ausgeschlossen.