Ein Delir kann viele Ursachen haben, tritt besonders häufig bei Intensivpatienten und im Alter auf und wird durch Ärzte und Pflegepersonal oft nicht erkannt. Umso erstaunlicher ist es, dass es keine deutsche Leitlinie für diese exogene Psychose gibt.
Die Bezeichnung Delir kommt aus dem Lateinischen: „delirare“ bedeutet „wahnsinnig sein“ oder „de lira ire“ heißt „aus der Furche oder der Spur geraten“; sie lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Die Nomenklatur des Delirs ist nicht einheitlich, es existieren Bezeichnungen wie „acute brain syndrome“, „organic brain syndrome“, „akute zerebrale Insuffizienz“, „acute confusional state“, „disorders of consciousness“, „Durchgangssyndrom“ oder „Verwirrtheitssyndrom“. Der ICD-10 teilt Delirien nach ihrer Komplexität und dem Schweregrad ein, DSM-IV hingegen fokussiert die neuropsychologischen Hauptsymptome. Die Folge ist, dass, wenn man die DSM-IV-Kriterien anlegt, meist mehr Delirzustände diagnostiziert werden. Das Delir ist eines der häufigsten atypischen Krankheitssymptome und die häufigste psychiatrische Erkrankung im Alter. Die BRAIN-ICU-Studie belegt, dass drei Viertel aller Patienten einer Intensivstation ein Delir erleiden.
Diese Störungen waren bei 34 Prozent aller Patienten auch nach einem Jahr noch nachweisbar. Umso erstaunlicher ist es, dass es keine deutsche Leitlinie zum Delir gibt. Lediglich in der abgelaufenen S3-Leitlinie „Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin“ wird es am Rande erwähnt. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) behandelt ausschließlich das Alkoholdelir.
Umfangreich und praxisorientiert ist die englische Delir-Leitlinie vom NICE (National Institute for Health and Clinical Excellence). Die Arbeitsbedingungen, Strukturen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Großbritannien ist sicherlich nicht in allen Punkten mit den deutschen Verhältnissen vergleichbar. Dennoch kann die Leitlinie auch in Deutschland eine Kompassfunktion einnehmen. Eine Kernaussage ist unter anderem: „Das Delir ist häufig, wird aber oft durch Ärzte und das Pflegepersonal, trotz der Tatsache, dass es zu schwerwiegenden, vermeidbaren Komplikationen führen kann und sogar letal sein, nicht erkannt. Leider gibt es für das Delir keinen einfachen Schnelltest vergleichbar mit dem EKG oder Troponin-Test beim Myokardinfarkt.“ Die Symptomtrias eines Delirs ist: Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung, Veränderung der kognitiven Funktion bzw. Wahrnehmungsstörung und akuter Beginn und Fluktuation im Tagesverlauf. Die Formen eines Delirs können in der Praxis sehr unterschiedlich sein:
Nach einer Studie von Ryan et al. wird ein Delir von Ärzten, Angehörigen und dem betroffenen Patienten höchst unterschiedlich wahrgenommen. Dies scheint bei der Früherkennung von großer Bedeutung zu sein. Mediziner bemerken meist primär eine Störung des Kurzzeitgedächtnisses. Pflegende nehmen eine Unaufmerksamkeit und Affektlabilität wahr. Der Patient selber fühlt sich unaufmerksam, desorientiert und leidet unter einem gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus.
Die NICE-Leitlinie empfiehlt eine zweistufige Diagnostik. Stufe 1 ist die tägliche Beobachtung aller Risikopatienten auf Delirindikatoren durch das Pflegepersonal, Angehörige und den Patienten selbst. Alle Intensivpatienten sind Delir-Risikopatienten. Beim Verdacht auf ein Delir wird Stufe 2 eingeleitet und der Patient mit einem Score-System erfasst oder ein psychiatrisches Konsil eingeleitet. Die didaktisch hervorragend aufbereitete Leitlinie vergleicht die Entwicklung der Delirprophylaxe mit der Decubitusprophylaxe in den 1980er-Jahren. Es gab keine. Bis heute existiert für das Delir keine etablierte Routineprophylaxe, nicht selten wird der Zustand akzeptiert und „aggressiv zugewartet“. Risikofaktoren mit hoher Evidenz sind:
Die Scores CAM (Confusion Assessment Method) und CAM-ICU (Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit) bieten eine wertvolle Hilfestellung bei der systematischen Diagnose. Der CAM-ICU-Score zeigt eine Sensitivität von 91–96 Prozent und eine Spezifität von 93–100 Prozent ist für den Intensivbereich konzipiert.
Delirzustände treten außerhalb der Klinik besonders häufig nach einem Ortswechsel, etwa dem Umzug in ein Alten- oder Pflegeheim auf. Sie sind Ausdruck der Dekompensation einer Demenzerkrankung. Auch Medikamente können ein Delir auslösen. Hierzu zählen u. a. Anticholinergika (Inkontinenzmedikamente), Antidepressiva, Neuroleptika, Digitalisglykoside, Diuretika, Antihypertensiva und Insulin. Auch Alkohol(-entzug) und psychotrope Substanzen, Herzrhythmusstörungen, Atem- und Niereninsuffizienz, Fieber und Elektrolytstörungen können den Patienten „ausflippen“ lassen. Besonders häufig sind auch Hypoglykämien die Ursache für akute Verwirrtheitszustände. Hierbei kann es auch spontan zu einer extremen Persönlichkeitsveränderung mit Aggressivität, Amnesie und untypischen Verhaltensmustern kommen. Deshalb ist ein BZ-Test bei jeder Delirdiagnostik ein absolutes Muss.
Das Evidenzniveau einzelner Maßnahmen ist insgesamt gering, da prospektive Untersuchungen fehlen. Die Therapie besteht zunächst aus dem Weglassen aller nicht lebensnotwendigen Medikamente. Außerdem sollte der Flüssigkeitshaushalt aufgefüllt werden. Wegen der Selbst- und Fremdgefährdung muss eine lückenlose Überwachung sichergestellt werden. Zur Ruhigstellung sowie Heraufsetzung der Krampfschwelle können kurzfristig Benzodiazepine verabreicht werden. In der Literatur werden diese jedoch auch kontrovers diskutiert. Bei hypotonen älteren Patienten ist das Neuroleptikum Haloperidol besser verträglich. Beim Alkoholdelir hat sich Clomethiazol bewährt. Auch für die neueren Antipsychotika wie Quetiapin, Olanzapin und Risperidon gibt es Hinweise auf eine Wirksamkeit. Die umfangreiche NICE-Leitlinie lässt sich wunderbar zusammenfassen: Denke ans Delir. Denke ans Delir. Denke ans Delir. Das gibt einem zu denken.