Seit Beginn der Pandemie wächst der Berg an Studien, die den Zusammenhang von Vitamin D und COVID-19 untersuchen. Doch viel weiß man noch nicht.
Keine Frage, Calciferole sind wichtige Hormone, die an vielen unterschiedlichen Stoffwechselvorgängen, wie etwa am Knochenstoffwechsel, beteiligt sind. Die wichtigsten Vertreter: Vitamin D2 und D3. Gerade bei älteren Menschen ist das Risiko eines Mangels hoch. Ihr Körper kann Vitamin D nicht mehr optimal selbst produzieren.
Die Corona-Pandemie verstärkt das Risiko eines Vitamin-D-Mangels gerade bei älteren Menschen, weil diese während des Lockdowns noch seltener das Haus verlassen. Deswegen verteilt die britische Regierung ab Januar kostenlose Vitamin-D-Präparate an knapp 2,5 Millionen Bürger – allen voran Bewohner von Altenheimen und andere Risikogruppen sollen die Präparate erhalten. Das soll deren „Muskel- und Knochengesundheit schützen“, um das Gesundheitswesen während der Pandemie zu entlasten, heißt es in einer Erklärung.
Damit will man aber nicht prophylaktisch SARS-COV-2-Infektionen vorbeugen, wie es in einigen Medien hieß. Denn dafür gebe es laut britischer Gesundheitsbehörden noch keine Anhaltspunkte. Sie zitieren zwei Reviews des Scientific Advisory Commission on Nutrition (SACN) und des National Institute for Health and Care Excellence (NICE).
Im Review des SACN konnten für die allgemeine Bevölkerung keine Hinweise darauf gefunden werden, dass Vitamin-D-Supplementation Atemwegsinfektionen im Allgemeinen verhindern könnten. Das zweite Review befasst sich explizit mit COVID-19. Doch die 5 eingeschlossenen Studien waren von niedriger Qualität, weswegen das Review zum Schluss kommt, dass es keine ausreichende Evidenz für den Einsatz von Vitamin-D-Supplementation zur Eindämmung des Erkrankungsrisikos gibt.
Diese Reviews erschienen im Sommer. Auch ein paar Monate später ist man trotz einer Flut neuer Studien über einen möglichen Zusammenhang zwischen Vitamin-D und COVID-19 nicht schlauer. Die Studien lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen.
Als Hinweis darauf, dass Vitamin D eine entscheidende Rolle in der Pandemie spielt, werden oft Studien herangezogen, die den Vitamin-D-Status der Bevölkerung vor der Corona-Pandemie mit der Infektionshäufigkeit in einzelnen Ländern vergleichen. In einer dieser Studien wurden zum Beispiel europäische Länder verglichen.
Das Ergebnis: Je niedriger der durchschnittliche Vitamin-D-Status der jeweiligen Bevölkerung vor der Pandemie, desto höher waren die Infektionszahlen und Todesfälle. Verglichen wurden zum Beispiel Spanien und Italien mit eher niedrigem durchschnittlichem Vitamin-D-Status und hohen Infektionszahlen und Schweden und Finnland mit durchschnittlich höherem Status, aber niedrigeren Infektionszahlen.
In südeuropäischen Ländern sind die Vitamin-D-Level niedriger, weil die Menschen sich wegen der Hitze in den Sommermonaten vermehrt im Schatten oder drinnen aufhalten und zudem eher dunkler pigmentiert sind, was die Vitamin-D-Synthese erschwert. In Nordeuropa ist vermutlich die Ernährung mit Fisch und in einigen Ländern wie Finnland die Anreicherung von Lebensmitteln für höhere Vitamin-D-Spiegel verantwortlich.
Anhand solcher Studien den Schluss zu ziehen, dass Vitamin D eine Rolle bei der Infektionshäufigkeit spielt, ist allerdings ziemlich weit hergeholt. Nur weil der Vitamin-D-Status mit den Infektionszahlen korreliert, heißt das nicht, dass es auch die kausale Ursache dafür ist. Nach dieser Argumentation könnte man auch sagen, dass die Vitamin-D-Supplementation der Bevölkerung über die Anreicherung von Lebensmitteln keinen Einfluss auf die Infektionshäufigkeit hat. Schließlich sind die USA das am schwersten getroffene Land und dort wird die Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D schon seit Ende der Neunziger Jahre praktiziert.
Die zweite Kategorie von Studien beschäftigt sich mit Patienten und ihren Vitamin-D-Spiegeln. Das scheint auf den ersten Blick ein vielversprechenderer Ansatz zu sein, um zu klären, ob Vitamin D irgendwie mit COVID-19 zusammenhängt.
So konnten Studien schon früh zeigen, dass hospitalisierte und schwer erkrankte COVID-19-Patienten häufiger einen Vitamin-D-Mangel haben als weniger schwerkranke Patienten. Allerdings ist auch hier die Studienlage durchwachsen. Es gibt auch Studien, die keinen Zusammenhang feststellen konnten.
Außerdem ergibt sich hier ein grundlegendes Problem: Was war zuerst da? Ist der niedrige Vitamin-D-Status für die Krankheitsschwere verantwortlich oder umgekehrt: Führt die Erkrankung zum niedrigen Vitamin-D-Status? Bei entzündlichen Erkrankungen scheint ein niedriger Vitamin-D-Spiegel etwa die Folge der Entzündung zu sein und nicht Ursache der Erkrankung.
Sowieso tritt ein Vitamin-D-Mangel als Begleiterscheinung bei vielen Erkrankungen und Lebensumständen auf, die wiederum das COVID-19-Risiko erhöhen. Dazu zählen zum Beispiel Adipositas, ein hohes Alter oder Diabetes.
Eine genomweite Assoziationsstudie mit 400.000 Teilnehmern hat untersucht, ob sich eine genetische Prädisposition für niedrige Vitamin-D-Spiegel in der Erkrankungshäufigkeit widerspiegelt. Interessanterweise war es bei Menschen mit genetischer Prädisposition für niedrige Vitamin-D-Spiegel, weniger wahrscheinlich, mit COVID-19 hospitalisiert zu werden oder einen schweren Verlauf zu entwickeln. Allerdings hat diese Studie auch noch nicht das Peer-Review-Verfahren durchlaufen und auch hier kann nicht auf eine Kausalität geschlossen werden.
Doch könnte eine Vitamin-D-Supplementation nicht doch schwerkranken COVID-19-Patienten helfen? Ein wenig Hoffnung dahingehend bringt eine viel zitierte Studie, die im Oktober erschienen ist. Hier konnte offenbar einen Vorteil der Vitamin-D-Gabe für COVID-19-Patienten festgestellt werden. Von 76 COVID-Erkrankten erhielten 50 zusätzlich zur normalen Therapie Calciferol. Von diesen 50 Patienten musste nur einer später intensivmedizinisch behandelt werden. Von den 26 aus der Kontrollgruppe war dies bei 13 der Fall. Zwei der Erkrankten aus der Kontrollgruppe starben.
Allerdings hat die Studie neben der geringen Teilnehmeranzahl auch noch eine weitere Limitation. Die Patienten, die kein Vitamin D erhielten, litten häufiger an Vorerkankungen wie Diabetes und Bluthochdruck.
Doch reicht dieser kleine Hinweis auf einen Nutzen nicht aus, um schwerkranken Patienten Vitamin D zu verabreichen? Immerhin ist es günstig und mögliche Nebenwirkungen vermutlich zu vernachlässigen.
So könnte möglicherweise sogar die überschießende Immunantwort, die vielen schwerkranken COVID-Patienten zum Verhängnis wird, durch Vitamin D gebremst werden. Über die immunsupprimierende Wirkung von Vitamin D wurde im Zusammenhang mit Muliple Sklerose berichtet. Allerdings könnte sich das auch als Nachteil herausstellen, wenn eine dringend benötigte Immunantwort aufgrund von hochdosierten Vitamin-D-Supplementen abgeschwächt wird.
Andere Wissenschaftler machen in ihrer Preprint-Studie darauf aufmerksam, dass hochdosiertes Vitamin D den Spiegel an Kalzium im Blutserum ansteigen lassen könne. Das könnte die Gefahr für einen Abbau von elastischen Faserproteinen im Lungengewebe oder in Blutgefäßen erhöhen. Doch auch dieses Phänomen müsse in Studien erstmal weiter beleuchtet werden.
Der Plan der britischen Regierung, kostenlose Vitamin-D-Präparate an Risikogruppen zu verteilen, erscheint sinnvoll. Und zwar deshalb sinnvoll, um eine ausreichende Versorgung dieser Menschen mit Vitamin D sicherzustellen. Nicht, um sie aufgrund einer dünnen Studienlage möglicherweise vor einem schweren Lauf zu bewahren.
Ob Vitamin-D-Präparate hospitaliserte COVID-19-Patienten nämlich tatsächlich vor einem schweren Verlauf bewahren, ist bislang unklar. Eine der vielen Studien zu dem Thema weckt zwar Hoffnungen auf eine positive Wirkung, eindeutig belegt ist der Nutzen damit aber nicht. Und demgegenüber stehen mögliche unbeabsichtigte Wirkungen von hochdosiertem Vitamin D bei schwerkranken Patienten, über die wir noch viel zu wenig wissen.
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