Ist der Patient adipös oder am Cushing-Syndrom erkrankt? Die Unterscheidung fällt Endokrinologen und Hausärzten oft schwer. Worauf ihr in der Praxis achten solltet, lest ihr hier.
Als der Neurochirurg Harvey Cushing 1910 zum ersten Mal das später nach ihm benannte Cushing-Syndrom beschrieb, waren Übergewicht und Adipositas in der Bevölkerung nur wenig verbreitet. Heute hingegen sprechen einige Experten bereits von einer regelrechten Adipositas-Pandemie: Seit 1975 hat sich weltweit die Anzahl der Adipositas-Erkrankungen fast verdreifacht. Und auch in Deutschland sind mehr als ein Fünftel der Einwohner inzwischen fettleibig.
Umso schwieriger ist es für Ärzte, das Syndrom von Adipositas zu unterscheiden. Denn beim Cushing-Syndrom führt eine gesteigerte Produktion von Cortisol gerade zu den Symptomen, die auch für Adipositas und das häufig begleitend anzutreffende metabolische Syndrom typisch sind: Gewichtszunahme, Diabetes mellitus und Hypertonie.
Wenn die beiden Krankheitsbilder zu so ähnlichen Symptomen führen, könnte es dann nicht sein, dass hinter der Adipositas viel häufiger in Wahrheit ein Cushing-Syndrom steckt?
Dr. Tim Hollstein ist sich der Herausforderung, ein Cushing-Syndrom nicht zu übersehen, bewusst. Er arbeitet und forscht in der Endokrinologie der Universitätsklinik in Kiel. „Insgesamt ist das Cushing-Syndrom eine seltene Erkrankung. Deutschlandweit erkranken nur rund 80–150 Personen im Jahr“, berichtet Hollstein. Dabei bezieht er sich auf das endogene Cushing-Syndrom. Denn das Cushing-Syndrom kann auch durch die Einnahme cortisolhaltiger Medikamente hervorgerufen werden. Diese Fälle sind jedoch einfacher zu erkennen, da die Ursache einer Gewichtszunahme kurz nach Beginn einer Cortisoltherapie recht offensichtlich ist.
Beim endogenen Cushing-Syndrom ist hingegen meist ein Tumor der Hirnanhangsdrüse oder der Nebennierenrinde die Ursache der Hormonstörung. Wenn bei Patienten eine Gewichtszunahme sehr plötzlich auftritt, wird Hollstein hellhörig. Dann ist es wichtig, auf weitere Zeichen zu achten, die das Cushing-Syndrom von der Adipositas unterscheiden.
Denn die überschießende Cortisolproduktion führt nicht nur zu einer Gewichtszunahme. Cortisol hat auch einen großen Einfluss auf die Haut, die Knochen und die Produktion von Blutzellen. Es kann zu dünnerer Haut, häufigen Einblutungen und einer Abnahme von Knochenmasse kommen.
„Ein einfacher diagnostischer Test ist, die Hautdicke der Patienten zu messen“, erklärt Hollstein. Mithilfe eines Hautfaltenmessgerätes, auch Kaliper genannt, wird die Haut gegriffen und ihre Dicke bestimmt. „Wenn die Hautdicke unter 2 mm beträgt, ist die Wahrscheinlichkeit für ein Cushing-Syndrom schon stark erhöht.“
Der amerikanische Endokrinologe Lynn Loriaux beschrieb 2017 in einem Artikel im New England Journal of Medicine, wie durch die Kombination mehrerer dieser klinischen Zeichen ein Cushing-Syndrom recht sicher von einem metabolischen Syndrom mit Adipositas unterschieden werden kann.
Die genaue Prävalenz des nicht-diagnostizierten Cushing-Syndroms ist unbekannt. Anhand der Todesfälle durch Nebennierenrindenkarzinome pro Jahr kann sie jedoch abgeschätzt werden. Loriaux vermutet daher, dass die Chance, bei einer Person mit Adipositas, Bluthochdruck und Typ-2-Diabetes ein Cushing-Syndrom zu übersehen, nur bei eins zu 500 liegt.
Liegen zusätzlich hingegen eine dünne Haut, eine verminderte Knochenmasse und Hauteinblutungen vor, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Patient an einem Cushing-Syndrom leidet, auf 95 Prozent.
„Bestätigen lässt sich die Diagnose dann aber nur mit einem laborchemischen Test“, sagt Hollstein. Bei Patienten mit Hinweisen auf ein Cushing-Syndrom wird dazu der durchschnittliche Cortisolgehalt im Urin über 24 Stunden ermittelt. Ein routinemäßiges Screening von Cortisolspiegeln bei adipösen Patienten ohne weitere klinische Hinweise auf ein Cushing-Syndrom halten Endokrinologen jedoch nicht für sinnvoll. Bei der geringen Prävalenz des Cushing-Syndroms wäre die Rate der falsch-positiven Befunde einfach zu hoch.
Nichtsdestotrotz bleibt es eine Herausforderung, ein Cushing-Syndrom nicht zu übersehen. Gerade weil das Krankheitsbild so selten ist, haben Hausärzte wenig Erfahrung mit der Diagnose. Selbst Endokrinologen sehen nur selten bei ihrer Tätigkeit in spezialisierten Zentren ein Cushing-Syndrom.
Adipöse Patienten, die über eine sehr plötzliche Gewichtszunahme klagen, oder bei denen eine Änderung des Lebensstils und Gewichtsreduktionsprogramme keinen Erfolg zeigen, sollten sich daher in endokrinologischen Spezialambulanzen einmal genauer untersuchen lassen. Denn ein unentdecktes Cushing-Syndrom kann durchaus gravierende Folgen für die Patienten haben. „Durch die überschießende Cortisolproduktion kommt es zu diversen Folgeerkrankungen. Dadurch kann das Cushing-Syndrom schon nach ein paar Jahren tödlich enden“, erklärt Hollstein.
Quellen:
WHO. 2018. 'Fact sheet: obesity and overweight', Accessed 20.06.2019.
Mensink, G.B.M., A. Schienkiewitz, M. Haftenberger, T. Lampert, T. Ziese, and C. %J Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz Scheidt-Nave. 2013. 'Übergewicht und Adipositas in Deutschland', 56: 786-94.
Loriaux, D. L., Longo, D. L. (Ed.), Diagnosis and Differential Diagnosis of Cushing's Syndrome. New England Journal of Medicine, Massachusetts Medical Society, 2017, 376, 1451-1459.
Bildquelle: Erol Ahmed, Unsplash