In Kliniken kommt es auch außerhalb der Intensivstation zu lebensbedrohlichen Zwischenfällen, wenn sich der Zustand von Patienten unerwartet verschlechtert. Neue Technik verspricht, die Zeit zwischen den Kontrollen der Pflegekräfte zu überbrücken und abzusichern.
Vor einigen Wochen kündigte Google an, einen neuen Gesundheits-Tracker zu entwickeln. Nicht, dass es nicht schon genügend Apps zur Messung des Ist-Zustands von Körperfunktionen gäbe. Google zielt mit einer wesentlich zuverlässigeren und genaueren Messung vor allem auf Praxen und Kliniken. Die Daten zu Herzrhythmus, Puls und Körpertemperatur sollen frühzeitig auf mögliche Probleme aufmerksam machen. Erste Tests im klinischen Umfeld sind in den nächsten Monaten geplant.
Während auf der Intensivstation ein aufwändiges Sensoren-Arsenal jede Zustandsveränderung von schwer kranken Patienten registriert und bei Abweichungen Alarm schlägt, ist das auf anderen Stationen nicht so: Hier kommt es auf die Pflegekräfte an, wie gut sie ihre Schützlinge besonders in der ersten Zeit nach einer OP einschätzen und auf sie aufpassen können. Besonders dann, wenn solche Patienten mit Opioid-Analgetika und Sedativa beruhigt werden, kommt es nicht allzu selten zu einer Atemdepression. Der Blick nach Amerika zeigt, dass davon jeder 200ste frisch Operierte betroffen ist. Übersedierung oder verspätete Reaktion auf eine Intoleranz gegen Schmerzmittel führen dann zu einer Dekompensation. Erste Anzeichen entwickeln sich nach etwa sechs Stunden und gehen häufig mit einer deutlichen Verschlechterung der körperlichen Verfassung einher, die ohne Intervention lebensbedrohlich werden kann. Um die langen Zeiträume zwischen den manuellen Kontrollen besonders bei Risiko-Patienten zu überbrücken, haben sich Medizintechniker etwas einfallen lassen. Zum einen sind es Geräte, die Vitalfunktionen drahtlos messen und bei kritischen Werten ein Alarmsignal an das Pflegepersonal, Ärzte oder eine Datenzentrale senden. Zum anderen tut sich auf diesem Gebiet auch im Bereich der Software einiges. So kalkulieren komplexe Algorithmen den derzeitigen und zu erwartenden Gesundheitszustand in den nächsten Stunden aus den verfügbaren Daten der letzten Kontrollen und den vorhandenen Laborparametern.
So bietet ein israelischer Hersteller Sensoren an, die unter der Matratze liegen und trotzdem noch sensibel genug sind, die Atemtätigkeit und den Herzschlag aufzuzeichnen und ebenso Bewegungen des Patienten zu registrieren. Das System kann bei Veränderungen von Puls und Atem die Schwestern beispielsweise per Nachricht auf dem Mobiltelefon alarmieren. Der Bewegungssensor im Gerät schlägt aber auch dann Alarm, wenn zum Beispiel verwirrte Patienten aus dem Bett steigen. Mit der Registrierung von Bewegungen im Bett hilft der Sensor aber auch bei der Prophylaxe von Dekubitus. Einige Kliniken in den USA [Paywall] und inzwischen auch in Europa nutzen die Ergänzung schon seit einiger Zeit. Eine retrospektive Studie [Paywall] an zwei Kliniken in Los Angeles und Boston mit über 7.600 Patienten (rund 2.300 im Interventions-, 5.300 im Kontrollarm) auf einer chirurgischen Station zeigten bei den elektronisch überwachten Patienten eine kürzere Aufenthaltsdauer auf der Station und weniger Tage auf der Intensivstation, auch wenn sich die „Transfer-Rate“ auf die Intensivstation nicht signifikant änderte. Deutlich zurückgegangen ist jedoch die Anzahl der „Code Blue-Events“ – die Anzahl der Herzalarme – von sechs auf eins bis zwei pro 1.000 Patienten.
Glaubt man den Zahlen amerikanischer Kliniken, kommen etwa bei der Telemetrie oder der Oximetrie auf 10 Überwachungsstunden 15 bis 20 Alarme. Bei den meisten davon handelt es sich um einen falschen Alarm, der die Schwestern unnötig aufschreckt. Bei den drahtlosen Sensoren liegt die entsprechende Zahl nach Angaben des Herstellers bei rund 0,3. Das bedeutet, dass Schwestern und Ärzte kaum „abstumpfen“, aber auch, dass das Gerät die persönliche Betreuung des Patienten nicht ersetzt. Nach der Erprobung in den Vereinigten Staaten testen nun auch europäische Kliniken die „Intensivstation light“. Neben Antwerpen und Rotterdam finden sich die Sensoren auch in 28 Betten der Universitätsklinik Saarbrücken auf der inneren Station. Auch wenn die Kosten mit rund 5.000 Euro pro Bett relativ hoch sind, soll sich das Gerät angeblich nach weniger als einem Jahr amortisieren. So zeige sich anhand der veränderten Herz- und Atemfrequenz etwa eine Sepsis früher als mit den üblichen Kriterien, wie Daniel Grandt vom Klinikum in Saarbrücken in einem Fernseh-Interview erläuterte.
Der Sensor unter der Matratze ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, den Patienten zwischen den Visiten im Blick zu behalten, ohne ihn auf die Intensivstation verlegen zu müssen. Ohne neuartige Hardware kommen etwa Programme wie zum Beispiel das in Großbritannien verbreitete System „VitalPac“ aus. Es fasst die jeweils aktuellen Werte der elektronischen Krankenakte zu „Gefahrenwerten“ zusammen, empfiehlt dem Pflegepersonal häufigere Kontrollen oder alarmiert bei akuter Bedrohung auch den Notfalldienst. Einer ersten Studie zufolge sank nach der Einführung des Systems, das als App auf mobilen Smartphones oder Tablets läuft, die Mortalität signifikant. Ähnlich funktioniert auch ein Algorithmus, der vor allem an US-Kliniken für eine schnelleres und aktuelles Gesamtbild des Patienten sorgt. Aus bis zu 26 Parametern in der Patientenakte errechnet das Programm eine Indexzahl zwischen Eins und Hundert in Echtzeit. Entsprechende Alarmstufen sorgen dann für erhöhte Aufmerksamkeit und das Eingreifen von Spezialisten. Rund 70 Kliniken nutzen inzwischen den nach seinen Entwicklern benannten „Rothman-Index“. Bei einer 300-Betten Klinik fallen dabei Kosten von 150.000 US-Dollar an. Der Vorteil der Software liegt entsprechend den Erfahrungen bisheriger Anwender darin, dass sie durch den Vergleich mit den Werten aus der Vergangenheit auch unbemerkte Veränderungen im Zustand des Patienten aufdeckt und sie zudem mit den Daten anderer Patienten mit ähnlichen Krankheitszuständen vergleichen kann.
Alle Geräte und Programme haben nach den Aussagen von Entwicklern und Klinik-Managern nicht das Ziel, noch weiter im Pflegebereich einzusparen, sondern ihre Arbeit mit technischer Hilfe zu unterstützen. Eine Studie aus Singapur [Paywall] zeigt, dass es auf der Station mit nur wenigen hochqualifizierten und erfahrenen Pflegern immer noch häufig zu Fehleinschätzungen kommt. Bei 614 Schwestern auf Allgemeinstationen glaubten fast 50 Prozent irrtümlich, Änderungen des Blutdruck seien der erste Indikator für eine Zustandsverschlechterung. Nur knapp darunter lag die Zahl derer, die die Atemrate als unwichtigsten Indikator ansahen. Mehr als ein Viertel aller Pfleger kontrollierten die Atemrate daher nur oberflächlich. Zwischen 20 und 35 Prozent des Pflegepersonals betrachtete die Überwachung der Vitalfunktionen generell als zeitaufwändig und belastend. Wenn auch in Deutschland die elektronische Krankenakte eine immer größere Verbreitung findet, sollten sich Programme und Sensor-Daten potentiell integrieren lassen. Sie könnten der Pflege die Arbeit erleichtern. Die bisherigen Studien zeigen, dass das grundsätzlich funktioniert. Der Proof-of-Principle wurde also bereits mehrfach erbracht. Offen bleibt der datenschutzrechtliche Umgang mit der enormen Fülle an zusätzlichen, sensiblen Patientendaten.