Psychiatrischer Notfall im Rettungsdienst. Eine Frau hat sich im Badezimmer eingesperrt, weil sie von ihrem Freund verlassen wurde. Sie sagt, sie wolle nicht länger leben. Was jetzt hilft – und was nicht.
Alarmierung um 22:30 Uhr zum psychischen Ausnahmezustand mit der Polizei. Dein Kollege und du verdrehen die Augen. „Die Nächste, die wir in die 50 Kilometer entfernte Psychiatrie fahren müssen“, beschwert sich der Kollege auf dem Fahrersitz.
Während der Fahrt versuchst du dich mental auf den Einsatz vorzubereiten und das verstaubte Wissen über psychiatrische Notfälle aus der hintersten Ecke deines Kopfes hervorzukramen. Immerhin hattest du zwei Wochen Praktikum in einer akutpsychiatrischen, stationären Einrichtung sowie insgesamt drei Fortbildungstage zu diesem Thema.
Am Einsatzort angekommen erwarten dich an der Haustür des Einfamilienhauses bereits zwei PolizistInnen, die dir berichten, dass sich die 20-jährige Patientin in ihrem Elternhaus im Badezimmer eingesperrt habe. Ihr Freund habe sie verlassen und nun wolle sie nicht länger leben. Die Mutter der Patientin hat tränenunterlaufene Augen und macht sich große Sorgen. Der Vater steht sichtbar genervt in einer Ecke des angrenzenden Hausflurs neben dem kleinen Bruder im Schlafanzug.
Du hast nach mühevollen 20 Minuten einen „Draht“ zu der Patientin hinter der Badezimmertür aufgebaut, da wird dein Kollege unruhig: „Komm jetzt da raus Kleine, das Leben geht weiter, es geschehen weitaus schlimmere Dinge auf der Welt!“ Daraufhin herrscht Stille im Badezimmer, die Patientin reagiert nicht länger auf Ansprache. Nun ist nicht nur deine mühevolle Überzeugungskraft Geschichte, sondern auch die Zurückhaltung der Polizei. Ein beherzter Tritt und die Tür ist offen. Die Patientin wird in den RTW geführt, zeigt sich jedoch zunehmend incompliant und renitent. Zur Sedierung muss schließlich ein Notarzt nachgefordert werden.
Der Kollege erscheint zufrieden mit dem Einsatzablauf, doch dir bleibt das ungute Gefühl, dass das alles ganz anders hätte laufen können. Bei deinem Kollegen gilt eher der Grundsatz:
Wir alle wissen, um in der Notfallrettung tätig zu sein, benötigt man nicht allein theoretische und praktische Fertigkeiten der Notfallmedizin (sogenannte „Hard Skills“). Einen großen Bestandteil unserer Tätigkeit stellen sozialkommunikative und empathische „Soft Skills“ dar. Diese rücken bei psychiatrischen Notfallpatienten in den Vordergrund. Immer wieder erlebt man im Rettungsdienst Stigmatisierung und Unsicherheit bei KollegInnen in diesem Kontext. Doch woran liegt das eigentlich?
Eine besondere Herausforderung der psychiatrischen ersten Hilfe im Rettungsdienst stellt die akute Suizidalität dar. Oberstes Ziel des Rettungsdienstes ist hierbei die Sicherheit aller Beteiligten mit zeitnaher Risikoabwägung und Lagebeurteilung. „Das Suizidrisiko [von PatientInnen] abzuschätzen gehört zu den schwierigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben im Rettungsdienst.“ (Luxem et al. 2017). Doch wie sollte man sich im Umgang mit psychiatrischen PatientInnen in der Präklinik verhalten und welche Tabus sollte man besser vermeiden? Wie schätzt man das Suizidrisiko ein und wie sieht das weitere Vorgehen aus? Um etwas „Licht ins Dunkel“ zu bringen, werden im nachfolgenden Text ein paar Tipps und Tricks aufgezeigt und zum Ende des Blogs in einer praktischen dasFOAM-Taschenkarte zusammengefasst.
Im Jahr 2018 starben in Deutschland 9.396 Menschen durch Suizid, wobei die Dunkelziffer weit höher liegen mag. Mit einem Anteil von 76 % nehmen sich Männer dabei deutlich häufiger das Leben als Frauen. Statistisch weisen Frauen jedoch eine dreimal höhere Disposition für parasuizidale Handlungen auf, sogenannte Suizidversuche. Das durchschnittliche Alter von Männern lag zum Zeitpunkt des Suizides bei rund 58, bei Frauen im Durchschnitt bei 59 Lebensjahren. Insgesamt ist die Zahl der Suizide in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.
Die am häufigsten gewählte Suizid-Methode war, sowohl bei Frauen als auch bei Männern, die Selbsttötung durch „Erhängen, Strangulieren oder Ersticken“ (Statistisches Bundesamt, 2018). Psychiatrische Notfälle, Intoxikationen und akute Suizidalität stellen einen großen Anteil der Notarzteinsätze in Deutschland dar (vgl. Dreher, 2018).
Als Risikofaktoren für Suizidalität gelten frühere parasuizidale Handlungen sowie eine bekannte psychische, chronische oder lebenslimitierende bzw. degenerative körperliche Erkrankung und eine familiäre Disposition. Ebenso begünstigende Faktoren sind junges oder hohes Erwachsenenalter, Alkohol- und Drogeneinfluss, ein instabiles soziales Umfeld bzw. persönliche Krisen (Arbeitslosigkeit, Altersarmut, Scheidung, Einsamkeit, Tod naher Angehöriger etc.) sowie religiöse, rassistische oder politische Verfolgung und sexueller bzw. körperlicher Missbrauch.
Besondere Vorsicht ist bei bereits getätigten Suizidäußerungen oder -ankündigungen gegeben (Red Flag). Diese werden häufig unterschätzt, müssen jedoch immer äußerst ernst genommen werden, auch unter Alkohol- oder Drogeneinfluss! Eine Risikoabschätzung vor Ort sollte im persönlichen Gespräch möglichst von erfahrenen NotärztInnen, (Polizei-)PsychologInnen oder NotfallsanitäterInnen durchgeführt werden. Gerade bei unmittelbarer Gefahr, wie z.B. der Androhung eines Sprunges aus großer Höhe, sollten umgehend Spezialkräfte der Feuerwehr und der Polizei nachalarmiert werden.
Da sich allerdings eine psychologische Soforthilfe präklinisch oft schwer umsetzen lässt, werden nachfolgend allgemeine Grundlagen einer Risikoeinschätzung, sowie mögliche Interventionsstrategien und Behandlungsziele aufgeführt. Unabdingbar ist die Bereitwilligkeit, mit den PatientInnen zu kooperieren und deren momentane Gefühlslage ernst zu nehmen. Gleichwohl ist ein selbstbewusstes, empathisches und geduldiges Auftreten als medizinisches Fachpersonal indiziert. Vorschnelles Handeln oder eine Überforderung bzw. Provokation der PatientInnen kann zu einer akuten Verschlechterung der Situation führen.
Ferner sollte wenn möglich ein sicheres, reizarmes und vertrauensvolles Setting geschaffen werden. Es kann mitunter sehr anspruchsvoll sein, das individuelle Suizidrisiko abzuschätzen. Die modified „Sad Persons Scale“ kurz: modified SPS soll Fachpersonal ohne psychiatrische Ausbildung hierbei unterstützen. Aktuelle Leitlinien raten jedoch von der Einschätzung mithilfe solcher Scores ab, die Studienlage ebenfalls. Katz et al. stellten lediglich eine Sensitivität von 64 %, sowie eine Spezifität von 85 % fest. Die Skala bietet aber einen groben Überblick über Risikofaktoren. PatientInnen mit einem Score <6 sollen ein geringeres Suizidrisiko haben (vgl. Wyatt et al. 2020).
Transparentes Handeln, also das Erklären jeglicher Tätigkeiten, so offensichtlich sie auch sein mögen, ist wichtig, um eine Überforderung der PatientInnen zu verhindern und sie wissen zu lassen, dass sie weiterhin „HerrIn der Lage“ sind (Luxem et al. 2017).
Dies erleichtert auch eine Überprüfung der Vitalparameter unter Beachtung des Eigenschutzes um mögliche Begleitverletzungen oder somatische Erkrankungen erkennen und behandeln zu können. Das Ziel, eine suizidale Handlung zu verhindern bzw. PatientInnen leitliniengerecht zu reanimieren, steht auch in Beachtung der Garantenpflicht an oberster Stelle. Das Unterlassen von Reanimationsmaßnahmen in Abwesenheit sicherer Todeszeichen bleibt hierbei der Einzelfall (weitere Infos dazu von den Rettungsaffen). Psychiatrische PatientInnen haben denselben Anspruch auf eine adäquate medizinische Versorgung wie alle anderen NotfallpatientInnen. Das „Totschweigen“ suizidaler Gedanken ist nicht zielführend, deshalb sollten PatientInnen offen auf ihre Suizidgedanken angesprochen und zu einer objektiven Einschätzung der Situation ermutigt werden (sogenannte Entpathologisierung).
Wichtig für das Erreichen einer glaubhaften Distanzierung von unmittelbaren Selbsttötungsabsichten im Sinne einer kurzfristigen „Non-Suizid“ Vereinbarung, ist die Herstellung einer gegenseitigen Vertrauensbasis und die Ambivalenzförderung. Dies beinhaltet auch das dringende Unterlassen von Verharmlosungen durch konventionelle Klischees (z.B. „Kopf hoch, das Leben geht weiter …“), oder wahrheitswidriger Behauptungen („Sie können sich ja jederzeit selbst entlassen …“). Weiter sollten Bewältigungsstrategien von früher aufgetretenen suizidalen Gedanken erfragt werden.
Ziel ist es, die Bereitschaft der PatientInnen zu fördern, ihre Entscheidung noch eine bestimmte Zeit zurückzustellen. Dies kann durch aktives Zuhören, Geduld und die Fähigkeit, Stille auszuhalten, erreicht werden. Die Kollegen von Rettungsdienst FM haben zum Thema Patientenkommunikation einen hörenswerten zweiteiligen Podcast veröffentlicht. Offene Fragen führen meist zum Erfolg, keinesfalls sollte jedoch versucht werden (gut gemeinte) Ratschläge zu erteilen. PatientInnen brauchen keine „guten Gründe“ um sich hilflos und allein zu fühlen. Gedanken, Gefühle und Verhalten sind wie das Schmerzempfinden – individuell und berechtigt!
Die Grundregeln des aktiven Zuhörens kann man sich anhand der 10 A-Regel merken:
Die Regeln der „Einfachen Sprache“, frei nach Lopez, 2020
Und was das alles nun mit Eisbergsalat zu tun hat – das erfahrt ihr im zweiten Teil dieses Artikels, den ihr hier findet.
Quellenangaben:
Luxem et al. (2017). Notfallsanitäter Heute. 6. Auflage, Herausgeber: Urban & Fischer Verlag
Dreher, Jan (2018). Indikationen im Notarzteinsatz.
Statistisches Bundesamt Deutschland; letzter Zugriff am 19.11.2020
Wyatt et al. (2020). Oxford Handbook of Emergency Medicine, fifth edition, Oxford University Press
Katz, C., Randall, J. R., Sareen, J., Chateau, D., Walld, R., Leslie, W. D., Wang, J. L. & Bolton, J. M. (2017). Predicting suicide with the SAD PERSONS scale. Depression and Anxiety, 34(9), 809–816.
Lopez (2020). Regeln für Einfache Sprache; letzter Zugriff am 19.11.2020
Bildquelle: Greta Pichetti, unsplash