Ist eine Intensivstation voll, müssen die stabileren Schwerkranken auf Normalstationen verlegt werden. Dort steigt aber ihr Risiko, wieder intensivpflichtig zu werden. Ein gefährliches Dilemma.
Es ist ja mittlerweile schon Gewohnheit, dass viele Menschen bei Themen mitreden möchten, von denen sie keine Ahnung, aber dafür eine starke Meinung haben. Aktuell erlebt man das beim Thema der freien Intensivbetten. Da streiten niedergelassene HNO-Ärzte mit Betriebswirtschaftlern und anderen Nicht-Klinikern. Alle schauen auf das Intensivregister der DIVI und die Beteiligten werden nicht müde zu betonen, dass alles gut ist so lange wir noch freie Intensivbetten haben.
Dabei ist die Lage weitaus komplexer. Laut RKI werden in Deutschland 7 Prozent aller Patienten mit COVID-19 ins Krankenhaus aufgenommen. Nehmen wir Recklinghausen: 250 Neuinfektionen pro Woche bedeutet etwa 17 Patienten die pro Woche aufgenommen werden. Laut RKI werden ca. 17 Prozent der hospitalisierten COVID-Patienten beatmungspflichtig auf der Intensivstation. Das wären für den Kreis Recklinghausen etwa 3 Patienten. Das erscheint nicht viel. Problematisch ist, dass die Patienten im Durchschnitt 13,5 Tage auf der Intensivstation sind. Die liegen also noch da, wenn die neuen kommen – und so weiter.
Aber wann ist eine Intensivstation eigentlich voll? Man könnte ja denken, wenn es 20 Betten auf der Intensivstation gibt, dann ist diese mit Patient Nr. 20 voll. Weit gefehlt. Auch auf einer Intensivstation unterscheiden sich die Patienten nämlich bezüglich der Schwere ihrer Erkrankung. Es gibt Patienten, die ohne Maschinen, wie es sie nur auf einer Intensivstation gibt, nicht überleben können. Das sind zum Beispiel Patienten mit einer schweren Lungenentzündung und gestörten Sauerstoffaufnahme, die durch ein Beatmungsgerät beatmet werden müssen. Meist benötigen sie noch kreislaufstabilisierende Medikamente und starke Schmerzmittel, manchmal auch Schlafmittel für ein künstliches Koma. Nennen wir sie die roten Patienten. Patienten, die ohne die Technik und Perfusoren auf der Intensivstation in kürzester Zeit tot wären.
Dann gibt es die orangen Patienten, die sind zwar nicht beatmet, aber benötigen zum Beispiel kreislaufunterstützende Medikamente. Diese Medikamente kann man nur geben, wenn man gleichzeitig mit jedem Herzschlag den Blutdruck überwacht, auch das geht nur auf einer Intensivstation.
Außerdem gibt es noch die gelben Patienten. Bei uns liegen beispielsweise Patienten, die nach einer Lungen-OP für die Operation zwar kurzzeitig an einer Herz-Lungen-Maschine angeschlossen wurden, jetzt aber wieder selbständig atmen können. Diese Patienten benötigen noch eine intensive Schmerztherapie, Atemtraining und Überwachung von Vitalparametern. Diese Patienten benötigen weder ein Beatmungsgerät noch eine Dialyse, aber sie profitieren von der intensiven Betreuung und Überwachung einer Intensivstation. Je mehr Neuaufnahmen zwingend einen Platz auf der Intensivstation brauchen, desto eher wird man diese gelben Patienten auf eine Normalstation verlegen müssen.
Nehmen wir an, die Intensivstation ist voll, das Krankenhaus hat sich abgemeldet, für den Rettungsdienst kann diese Klinik nun nicht mehr angefahren werden. Weit gefehlt wer sich dann mit seiner Intensivstation sicher fühlt und denkt, es können keine zusätzlichen Patienten mehr dazu kommen. Manchmal kommt der Rettungsdienst nämlich trotzdem und abweisen darf man einen Patienten nicht so einfach.
Viel häufiger kommt es aber bei Patienten, die bereits im Krankenhaus, zum Beispiel auf einer Normalstation, liegen zu Komplikationen. Dann muss dieser Patient notfallmäßig beatmet werden (= roter Patient) und benötigt nun ebenfalls ganz dringend ein Bett auf der eigentlich vollen Intensivstation. Also muss ein freies Bett geschaffen werden und es beginnt die Suche nach dem Patienten, der am wenigsten krank ist. Meist werden diese Patienten schon bei der Übergabe als potenzielle Verlegungskandidaten markiert. Diese Patienten sind so krank, dass man sie eigentlich noch gerne auf der Intensivstation belassen möchte, aber eben zur Not verlegen kann, falls ein Bett für einen noch kränkeren Patienten benötigt wird.
Es gehört zu den Herausforderungen der Leitung einer Intensivstation, immer zwischen dem vorhandenen Angebot (an Betten) und der Nachfrage (durch Patienten, die ein solches benötigen) zu vermitteln. Im Normallfall ist das auch kein Problem. Es gibt einen Graubereich, in dem Patienten sowohl von der Intensivstation (besserer Pflegeschlüssel, mehr Behandlungsmöglichkeiten) als auch von der Normalstation (mehr Ruhe, Tag-Nacht-Rhythmus, weniger Risiko für multiresistente Erreger usw.) profitieren. Es gilt den richtigen Zeitpunkt für die Verlegung abzupassen. Im normalen Klinikalltag funktioniert das sehr gut.
Kritisch wird es, wenn sich der Belegungsdruck für die Intensivstation durch immer neue Aufnahmen erhöht. Immer neue kritisch kranke Patienten, die ein Intensivbett benötigen, bedeuten, dass immer großzügiger Patienten auf die Normalstation verlegt werden müssen – Patienten, die eigentlich noch nicht verlegungsfähig sind.
Gleichzeitig passiert etwas mit dem Arbeitsaufwand und der Betreuungsintensität der Patienten auf der Intensivstation. Immer weniger gelbe Patienten und immer mehr orange oder rote Patienten bedeutet eine enorme Zunahme der Arbeitsbelastung der Pflegekräfte und Ärzte auf der Intensivstation. Eine Pflegekraft kann im Frühdienst vielleicht zwei gelbe und einen orangenen Patienten versorgen. Zwei rote und ein oranger Patient sind schlicht zu viel für eine einzige Pflegekraft. Man muss sich nur mal umhören und erfährt von Pflegekräften, die vier oder fünf Patienten auf einer Intensivstation versorgen müssen. Alles geht, dank Wegfall der Pflegeuntergrenze!
Diese Patienten müssen dann eben länger warten, bis ihnen jemand den Schleim absaugt oder bis ihnen jemand ein Schmerzmittel gibt oder die Beatmung anpasst. Die Qualität der Versorgung leidet darunter massiv, aber das ist eine politische Entscheidung und liegt nicht an der Unfähigkeit der betreuenden Pflegekräfte. Komplikationen und Schäden beim Patienten sind vorprogrammiert. Diese Mangelversorgung ist nicht nur geduldet, sondern gewollt, weil sie billiger ist als andere Lösungen.
Der immense Belegungsdruck, der auf den Intensivstationen lastet, wird aber auch in Richtung der Normalstationen weiter gegeben. Ein postoperativer Patient, der noch intensiv Schmerztherapie, Atemtherapie und Mobilisationstherapie benötigt, wird auf einer Normalstation früher oder später untergehen. Selbst wenn das Personal dafür ausgebildet wäre, könnten sie aufgrund regelhafter Unterbesetzung die entsprechende Pflege gar nicht leisten. Dies führt dazu, dass Patienten, die mit der nötigen Unterstützung prinzipiell auf der Normalstation verbleiben könnten, untergehen.
Ohne eine gute Schmerztherapie wird der Patient sich nicht ausreichend bewegen, es kann zur Ausbildung von Beinvenenthrombosen kommen. Fehlt die notwendige Atemtherapie, entwickelt der Patient minderbelüftete Areale in den Lungen, die Grundlage für eine Lungenentzündung. Mit Fortschreiten der Lungenentzündung geht es dem Patienten schlechter, schließlich muss er zurück auf die Intensivstation und gegebenenfalls sogar künstlich beatmet werden. Das sind nur einige Beispiele, es ist wie immer weit komplexer, aber ich möchte es exemplarisch verständlich aufzeigen.
Nicht jeder Patient kommt zurück auf die Intensivstation, manche Patienten schaffen den Absprung Richtung Entlassung oder Reha. Je mehr Wackelkandidaten (= gelbe Patienten) man aber von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt, desto höher wird das Risiko für Rückkehrer.
Damit hat man zwei Probleme: Auf der einen Seite eine rappelvolle Intensivstation mit richtig kranken Patienten (nur noch rote und orange Patienten) und keine echten Verlegungskandidaten. Auf der anderen Seite Normalstationen, die vermehrt anrufen und intensivmedizinsche Konsile anmelden, weil sie sehen, wie der Zustand von einigen ihrer Patienten sich zunehmend verschlechtert.
Mittendrin der Intensivmediziner, der sich dann entscheiden kann, wer das Bett bekommt und wer „auf Normal“ muss. Und was macht man, wenn der Rettungsdienst einen Patienten bringen will, der zwei Straßen weiter reanimiert wurde? Oder wenn die Station anruft und einen Patienten ankündigt, der jetzt ins Herzkatheterlabor geht und danach ein Bett auf der Intensiv benötigen wird? Welche weitreichenden Folgen das haben kann, beschreibe ich in meinem nächsten Artikel.
Bildquelle: Open-Clipart-Vectors, pixabay