Bei knappen Ressourcen entscheiden Ärzte nach ihrem Gewissen – und nicht nach Gesetz. Muss sich das in der Pandemie ändern? Die Bundesärztekammer sagt: Nein.
In Deutschland existiert kein Triage-Gesetz. Es ist somit nirgendwo gesetzlich geregelt, wie Ärzte in Notfallsituationen über Leben und Tod entscheiden müssen. Sollte sich das in Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Pandemie ändern? Kritiker fordern: Eine gesetzliche Regelung muss so schnell wie möglich her. Jetzt hat sich die Bundesärztekammer (BÄK) positioniert – sie ist gegen ein Triage-Gesetz. In ihrer Stellungnahme zur Vergabe medizinischer Ressourcen im Falle eines Kapazitätenmangels beantwortet sie Fragen zu Priorisierungsentscheidungen in den Kliniken.
Die BÄK bezieht sich damit auf eine Verfassungsbeschwerde von neun Klägern mit Behinderungen aus dem Frühjahr. Ihr Vorwurf: Der Gesetzgeber hätte angesichts möglicher Versorgungskrisen auf deutschen Intensivstationen das Verfahren im Falle von Versorgungsengpässen gesetzlich regeln müssen. Sie befürchteten, dass sie, wenn sich die Situation in den Krankenhäusern weiter zuspitzt, aufgrund ihrer Behinderung oder ihres Alters keinen Platz auf der Intensivstation bekommen würden – und forderten deswegen eine gesetzlich verbindliche Regelung der Triage.
Einen ersten Eilantrag auf eine solche Regelung hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zunächst abgewiesen. Aber es hat die Beschwerde der neun Kläger grundsätzlich als „nicht offensichtlich unbegründet“ eingestuft. Bedeutet: Das Gericht prüft weiter. Bis Mitte Dezember müssen Bundesregierung, Bundesrat, Länderregierungen und andere Instanzen wie die BÄK ihre Stellungnahmen abgeben. Zur Zeit können sich Ärzte an den bereits im März ausgearbeiteten Leitlinien für Triage-Regeln von sieben medizinischen Fachgesellschaften orientieren.
1. Wie wahrscheinlich ist es, dass es in Deutschland zu einer Triage-Situation kommt?
Die BÄK hält eine Triage-Situation im Sinne der Definition für eher unwahrscheinlich. Für die BÄK ist es fraglich, ob der im katastrophenmedizinischen Kontext definierte Begriff „Triage“ auf die Pandemie-Situation überhaupt übertragen werden kann bzw. soll. Anders als im Katastrophenfall, bei dem akut und unerwartet ein Massenanfall von Verletzten bzw. Erkrankten eintritt, ist bei einer Pandemie davon auszugehen, dass bei einer weiteren Zunahme von SARS-CoV-2-Infektionen kontinuierlich über einen längeren Zeitraum die Zahl hochdringlich behandlungsbedürftiger Patienten ggf. mathematisch vorhersagbar steigt („exponentielles Wachstum“).
Damit tritt nicht –wie im Katastrophenfall – einmalig eine hohe Zahl an akut Behandlungsbedürftigen auf, sondern die (ggf. steigenden) Patientenzahlen mit COVID-19 akkumulieren über die Zeit. Im Unterschied zu einem Massenanfall von Verletzten besteht die Möglichkeit, sich mit einem zeitlichen Vorlauf konkret auf verschiedene Szenarien vorbereiten zu können und auch Einfluss auf den Verlauf der Pandemie nehmen zu können, beispielsweise durch Maßnahmen wie Quarantäne-Regelungen, Reisebeschränkungen, Versammlungsverbote und Lockdown.
Es wird aber auch betont: Die mathematische Kalkulierbarkeit ist in einer Pandemie durch Unwägbarkeiten eingeschränkt.
2. Wie wird bisher im klinischen Alltag mit Kapazitätsengpässen umgegangen?
Zentrale Kriterien für Entscheidungen angesichts knapper Ressourcen sind aus Sicht der Bundesärztekammer die medizinische Indikation, der Patientenwille und die klinischen Erfolgsaussichten. Bei eventuell erforderlichen Priorisierungsentscheidungen sind grundsätzlich alle Patienten, die einen entsprechenden Behandlungsbedarf haben, einzubeziehen, unabhängig davon, ob ihr Bedarf auf eine infektiöse Erkrankung (SARS-CoV-2) oder eine andere (intensiv-)medizinisch behandlungsbedürftige Krankheit zurückgeht.
Im Falle notwendiger Priorisierungsentscheidungen bei nicht ausreichenden Ressourcen sollen diese so eingesetzt werden, dass die Erfolgsaussichten mit Blick auf das Überleben und die Gesamtprognose möglichst groß sind und die meisten Menschenleben gerettet werdenkönnen. Solche Entscheidungen sind nur unter existenzieller Knappheit gerechtfertigt. Wesentlich ist, dass die Perspektive von Erfolgsaussichten zeitlich und inhaltlich nicht so weit über den unmittelbaren Behandlungskontext hinaus ausgeweitet wird, dass sich daraus ein pauschaler Ausschluss bestimmter Patientengruppen ergibt.
3. Sollte die Triage in Deutschland gesetzlich geregelt werden?
Die BÄK ist der Auffassung: Die Entscheidung bei knappen Ressourcen muss letztlich eine ärztliche bleiben und kann nicht juristisch gelöst werden.
Das bedeutet auch, dass sich Ärzte nicht strafbar machen, wenn sie bei Kapazitätsengpässen, insbesondere auf Intensivstationen, unter Berücksichtigung fachlicher Kriterien wie insbesondere der Dringlichkeit und Erfolgsaussicht (...) einzelfallbezogene Entscheidungen zur priorisierten Allokation medizinischer Ressourcen treffen.
Spezifische gesetzliche Vorgaben, die etwa ein konkretes Verfahren beschreiben, seien nicht geeignet, diesen sensiblen Entscheidungsprozess, der im höchsten Maße einzelfallabhängig zu erfolgen habe und in der Regel keinen zeitlichen Aufschub dulde, angemessen zu lenken.
Die Stellungnahme der Bundesärztekammer ist im Text und hier verlinkt.
Bildquelle: Adhy Savala, unsplash