Im letzten Jahr starben hierzulande fast 1.000 Menschen, die auf ein Organ warteten. Die Zahlen der Organspenden und Transplantationen sinken in Deutschland kontinuierlich. Experten schlagen seit Jahren Alarm, doch eine Änderung ist nicht in Sicht. Auf der Suche nach Ursachen.
Fast sieben Jahre wartete Jens G. aus Hamburg auf ein Herz, drei Mal war es fast soweit, immer wieder drohten Herzinfarkt oder Schlaganfall. Der heute 73-Jährige traute sich kaum aus dem Haus. Er lebte maßvoll und ängstlich bis es endlich soweit war und er ein Herz bekam – das eines hirntoten Mannes, der einen Unfall mit dem Motorrad gehabt hatte. Das war 2007. Jens G. hatte Glück, heute wäre seine Aussicht auf ein neues Herz mehr als gering. „Viele Zentren melden vielfach nur noch Patienten, die dringlich ein Spenderorgan brauchen. Ein Patient hat kaum eine Chance, wenn er nicht auf der Hochdringlichkeitsliste steht“, sagt Jan Gummert, Direktor der Klinik für Thorax- und Kardiovaskularchirurgie an der Uniklinik Bochum. Nur etwa zehn Prozent der Patienten auf der Warteliste für ein neues Herz haben einen Hochdringlichkeitsstatus. Rund 90 Prozent von ihnen bekommen eine Transplantation, so der Kardiochirurg: „Es besteht ein krasses Missverhältnis. Je weniger transplantiert wird, desto mehr Patienten bleiben auf der Warteliste. Dann steigt natürlich die Zahl derer, die transplantiert werden müssen. Patienten mit normaler Dringlichkeit haben kaum noch eine Chance, transplantiert zu werden.“
Was für das Herz gilt, trifft ebenso auf andere Organe zu: Insgesamt 10.107 Patienten waren 2017 zur Transplantation gelistet. Allerdings wurden nur 3.383 Herzen, Lebern und Lungen, Pankreata, Dünndarm oder Nieren tatsächlich transplantiert. 939 Menschen starben in diesem Jahr, obwohl sie für ein oder mehrere Organe auf den Wartelisten standen, heißt es nach den jüngsten Erhebungen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Bezogen auf je eine Million Bürger habe die Zahl an transplantierten Patienten im Jahr 2016 in Spanien 102,3, in Österreich 87,2, hierzulande aber nur 44,4 betragen, so die Fachgesellschaft weiter. Keine Chance ohne Hochdringlichkeitsliste, weiß Kardiochirurg Jan Gummert. „Leider waren die jetzt gemeldeten offiziellen Zahlen auch so zu erwarten“, sagt Gummert: „Mehrere Faktoren sind dafür verantwortlich. Einer ist die fehlende Widerspruchslösung. Zahlen der DSO zeigen, dass eine bestimmte Anzahl von Spenden nicht realisiert werden konnte, weil unklar ist, wie derjenige zu Lebzeiten darüber gedacht hat. Wenn hier die Widerspruchsregelung gelten würde, dann wären das potenzielle Spender.“ Die Widerspruchsregelung besagt, dass ein Spender automatisch einer Organspende zustimmt, solange er nicht widerspricht – also genau umgekehrt, wie es hierzulande der Fall ist. In Italien und Österreich zum Beispiel gibt es diese Regelung schon länger, in den Niederlanden wurde sie kürzlich eingeführt. „Bei uns ist es historisch gewachsen, dass jeder Mensch einer Spende von sich aus zustimmen muss“, sagt Andreas Frewer, Medizinethiker am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Uni Erlangen-Nürnberg. „Dies entspricht einer Kultur des kritischen Zugangs beim Thema Organbedarf für die Medizin.“ Mit deutscher Mentalität allein könne man das Phänomen jedoch nicht erklären, so Frewer, dazu sei Deutschland zu groß und zu vielfältig: „Es gibt zum Beispiel ein deutliches innerdeutsches Gefälle mit einer höheren Quote in den östlichen Bundesländern bis zu einem Spitzenwert in Mecklenburg-Vorpommern.“
In der ehemaligen DDR habe es die Widerspruchsregelung gegeben. Sie war in der „Verordnung über die Durchführung von Organtransplantationen“ vom 4. Juli 1975 geregelt und wurde faktisch aufgehoben durch den Einigungsvertrag vom 31.08. 1990, erklärt Axel Rahmel, medizinischer Vorstand bei der DSO. „Man konnte widersprechen. Der Widerspruch musste schriftlich erfolgen und sollte dem Personaldokument beigelegt werden.“ Ein Register habe es nicht gegeben. „Wenn kein Widerspruch vorlag, konnte die Organspende über die Transplantationszentren realisiert werden. Die Transplantationsmediziner durften weder an der Hirntoddiagnostik, noch am Angehörigengespräch beteiligt sein“, so Rahmel. In der ehemaligen DDR sei das Gesundheitswesen autoritärer gewesen als im Westen, sagt Frewer.
In der Bundesrepublik gab es schon vor 2012 einen Einbruch der Spenderzahlen, als gleich mehrere Skandale die Glaubwürdigkeit in das bestehende System erschütterten. Damals „wurde bekannt, dass an den Transplantationszentren der Universitätskliniken Göttingen, Regensburg, München rechts der Isar und Leipzig Daten über den Gesundheitszustand von Patienten, die auf eine Spenderleber warteten, systematisch manipuliert worden seien, um Patienten auf der Warteliste zu bevorzugen“, so ein Bericht der Bundesregierung vom Dezember 2014. Die Organe, die in Deutschland zur Transplantation gespendet werden, werden nach Richtlinien vermittelt, die die Bundesärztekammer (BÄK) erstellt. Die Vermittlung erfolgt über Eurotransplant (ET): Hier sind Patienten aus acht Mitgliedsländern registriert, die auf ein oder mehrere Organe warten. Hier besteht jedoch ein deutliches Ungleichgewicht: „Im Jahr 2017 gingen 434 Organe aus Deutschland zur Transplantation in andere Länder des Verbunds, 609 Organe aus anderen Ländern wurden in Deutschland transplantiert“, sagt Rahmel. Engagiert im Kampf für mehr Organspenden und bessere Abläufe in den Kliniken: Axel Rahmel von der DSO. Tatsächlich sinken die Zahlen hierzulande seit 2010. Die Gründe sind laut Rahmel vielschichtig: „Auf den Intensivstationen müssen die Ärzte mögliche Spender erkennen und die Koordinierungsstelle informieren. Unsere Auswertungen zeigen, dass bei Therapieentscheidungen am Lebensende die Organspende teilweise nicht in Betracht gezogen wird.“ Auch die zunehmende Arbeitsverdichtung und -belastung auf den Intensivstationen sei eine zusätzliche Hürde für die Organspende.
Eine der Maßnahmen der Bundesregierung war es, 2016 das Transplantationsregistergesetz (TxRegG) zu erlassen. Demnach soll es eine Transplantationsregisterstelle geben, wo „erstmals Daten von verstorbenen Organspendern, Organempfängern und Lebendspendern bundesweit zentral zusammengefasst und miteinander verknüpft werden“, so Sebastian Gülde, Pressereferent im Bundesministerium für Gesundheit. Das Register solle langfristig unter anderem dazu beitragen, die Wartelistenkriterien sowie die Verteilung der Spenderorgane weiterzuentwickeln. Wann die Stelle tatsächlich ihre Arbeit aufnehmen kann, ist allerdings noch unklar: „Der Zuschlag für die Transplantationsregisterstelle ist den Gesundheitsforen Leipzig erteilt worden, der für die Vertrauensstelle des Transplantationsregisters ging an die Schütze AG“, so Mark Berger, Referent der BÄK, auf Nachfrage von DocCheck. Beide Stellen seien nun mit dem Aufbau des Transplantationsregisters befasst.
Mit der Novellierung des Transplantationsgesetzes wurde auch jedes der rund 1.200 Entnahmekrankenhäuser in Deutschland dazu verpflichtet, „jeweils mindestens einen Transplantationsbeauftragten zu bestellen“, so die Bundesregierung. Dessen Aufgaben umfassen laut DSO die Definition der Abläufe für Organspenden, die Schulung von Kollegen und die Funktion als Schnittstelle zur DSO. Rahmel sieht die praktische Umsetzung dieser Regelung allerdings kritisch: Allein Bayern habe bisher klare Regeln geschaffen und so entgegen dem Bundestrend die deutlichste Steigerung der Organspenden erzielen können, sagt er. „In Deutschland ist es vielfach noch so geregelt, dass der Transplantationsbeauftragte sich quasi neben seiner normalen klinischen Tätigkeit um die Organspende kümmert“, sagt auch Kardiochirurg Gummert. „Dann hängt es vom persönlichen Engagement des Beauftragten ab, mit wie viel Energie er Spenderverfahren begleitet.“ Die Rolle der Transplantationsbeauftragten müsse weiter gestärkt werden, fordert auch Rahmel: Dies betreffe vor allem die kontinuierliche Weiterbildung, die Entlastung von anderen Aufgaben und die Unterstützung und Wertschätzung ihrer Tätigkeit, insbesondere durch die Klinikleitung.
Möglicherweise würde eine attraktive Vergütung helfen – auch die Entnahme von Organen ist für Kliniken wirtschaftlich wenig interessant, ein weiterer Grund für die niedrigen deutschen Zahlen. „Nicht nur die Organentnahme kostet Geld“, sagt Gummert. Hirntote Spender müssen Zeit auf der Intensivstation verbringen und stabilisiert werden, bis man den Hirntod zuverlässig feststellen und die Organentnahme organisieren kann. Dieser Zeitraum wird nicht ausreichend finanziert.“ Bisher gibt es eine Aufwandsentschädigungen für Kliniken, so Rahmel: „Die Pauschalen werden den Besonderheiten des Einzelfalls häufig nicht gerecht und sind dann mitunter nicht kostendeckend.“ Wichtig sei eine stärker aufwandsbezogene Erstattung. Weder durch Arbeitsdruck noch durch finanzielle Engpässe dürfe die Organspende im Klinikalltag an den Rand gedrängt werden.
Ruth Rissing-van Saan versteht sich als Vertrauensperson an der Schnittstelle zwischen Ärzten, Pflegern und Patienten. Damit Spenderverfahren sauber und gut laufen, ist seit November 2012 die unabhängige Vertrauensstelle Transplantationsmedizin bei der BÄK eingerichtet worden, ehrenamtliche Leiterin ist die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof (BGH) a.D., Ruth Rissing-van Saan. „Die wichtigste Zielgruppe sind Patienten und deren Angehörige sowie Ärzte und Pflegekräfte in den Krankenhäusern“, sagt Rissing-van Saan. „Darum können die Hinweise auch anonym erfolgen. Die Anonymität ist nicht dazu gedacht, die Tätigkeit der Vertrauensstelle geheim zu halten, sondern sie soll den Menschen Schutz geben, wenn sie Anzeige erstatten wollen.“ Sie führe selbstverständlich Buch, berichte und lege in jeder Sitzung der Bundesärztekammer im Zusammenhang mit der Prüfungs- und Überwachungskommission, der sie angehöre, Rechenschaft ab. „Es wird also öffentlich gemacht, worum es geht“, sagt die Richterin. Seit der Einrichtung der Vertrauensstelle habe sie kürzlich den 300sten Fall registriert. Von diesen hätten nur knapp 20 auf Anonymität bestanden. Die Meldungen reichten von einzelnen Verdachtsmomenten bis hin zu Verbesserungsvorschlägen aus der Bevölkerung. „Ich verstehe mich als Moderatorin“, so Rissing-van Saan. „Es ist eine wichtige Aufgabe, auch weil so der Bevölkerung signalisiert wird, dass es jemanden gibt, der keine eigenen Interessen hat und versucht, die Belange der Patienten und der Ärzte zu vereinen und die Transplantationsmedizin zu fördern.“ Die Vertrauensstelle biete insbesondere auch Menschen die Möglichkeit, ihr Wissen weiterzugeben, wenn sie in den stark hierarchischen Strukturen von Krankenhäusern arbeiteten, sagt Rissing-van Saan: „Wir wollen hier für maximale Transparenz sorgen.“
Wie sehr dies nötig ist, zeigt der jüngste Fall im Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) in Hamburg: Bei den Recherchen zu diesem Artikel sagte eine Sprecherin ein Interview ab mit der Begründung, das UKE wolle sich derzeit aufgrund eines laufenden Verfahrens nicht äußern. Hintergrund sind Vorwürfe einer Untersuchungskommission von 2016, demnach es zwischen 2010 und 2012 massive Mängel bei der Dokumentation von Lungentransplantationen gegeben haben soll, zudem waren Akten verschwunden. Diese sind im vergangenen Jahr gefunden worden – und liegen seitdem bei der Hamburger Staatsanwaltschaft: Die gutachterliche Auswertung der sichergestellten Krankenunterlagen sei noch nicht abgeschlossen, so Oberstaatsanwalt Carsten Rinio. Der Fall zeigt, wie sensibel das Thema Organspende und Transplantation noch immer ist. Auch Patientenverfügungen, von denen heute immer öfter Gebrauch gemacht wird, behandeln nur selten die Frage der Organspende. Im Zweifelsfall, wenn der Patient sich gegen lebenserhaltende Maßnahmen ausspricht, kann er nicht mehr in Hinblick auf Organspenden exploriert werden. „Man kann die Patientenverfügung aber um eine Einverständniserklärung zur Organspende erweitern“, sagt Gummert. Die Landesärztekammern hätten entsprechende Textvorschläge. Dort stehe zum Beispiel, dass man keine sinnlose Therapie wolle, aber einer möglichen Organspende zustimme: „Patientenverfügung und Organspende sind also kein Widerspruch, sondern können miteinander kombiniert werden.“
„Die meisten Menschen denken nicht über Organspenden nach, bis sie selbst damit konfrontiert werden“, sagt Rissing-van Saan. Angehörige stünden unerwartet vor Gewissensfragen, weil sie nicht wüssten, wie der Betroffene darüber dachte. Zudem ist der Hirntod nach wie vor ein Zustand mit Fragezeichen. Zwar gilt er als sicheres Todeszeichen, denn mit ihm geht das irreversible Ende aller Hirnfunktionen einher; Kreislauf und Atmung werden mithilfe von Geräten künstlich aufrechterhalten. Auch gelten für die Diagnostik strenge Auflagen. Dennoch weichen die Meinungen auseinander, ob dieser zur Organentnahme berechtige: „Der deutsche Ethikrat hat ein differenziertes Votum zur Hirntod-Definition abgegeben“, sagt Frewer: „Es gab abweichende Auslegungen. Selbst in der Expertise der gesellschaftlichen Gremien besteht also keine absolute Einigkeit.“
Das kritische Bewusstsein sei historisch gewachsen und die Debatte konstruktiv, meint Medizinethiker Andreas Frewer. „Nach Auffassung einer Minderheit des Deutschen Ethikrates ist der Hirntod kein Kriterium für den Tod des Menschen“, heißt es in einer Erklärung von 2015. „Die Integration zu einem Organismus als einem Ganzen ist auch bei einem Patienten mit irreversiblem Ganzhirnversagen noch gegeben. Ein Mensch mit irreversiblem Ganzhirnversagen ist auch fähig zur Interaktion mit der Umwelt.“ Die Mehrheit des Ethikrates sehe den Hirntod aber als sicheres Zeichen für den Tod des Menschen, heißt es weiter: „Wenn durch den irreversiblen Ausfall aller Gehirnfunktionen die notwendigen Voraussetzungen mentaler Aktivität, jedes Empfindungsvermögens und damit jedwede Möglichkeit von selbst gesteuertem Verhalten bzw. Austausch mit der Umwelt für immer erloschen sind und außerdem die Einheit des Organismus zerbrochen ist, kann von dem in diesem Zustand befindlichen Körper nicht mehr als einem lebendigen Menschen gesprochen werden.“ Dennoch vertritt der Ethikrat einstimmig die Auffassung, dass am Hirntod als Voraussetzung für eine postmortale Organentnahme festzuhalten sei.
„Der Hirntod ist ein gutes und praktikables Kriterium, auch wenn anthropologisch und philosophisch noch einige Fragen offen sind“, sagt Frewer: „Dennoch könnte dies ein Teilaspekt sein, warum manche Menschen sich nicht mit den Kriterien des Todes auseinandersetzen möchten. Die psychologische Situation ist in der Praxis kompliziert. Man erfährt einen hirntoten Menschen physisch als schlafenden oder in tiefem Koma liegenden Menschen, auch wenn ein Hirntoter noch nie wieder aufgewacht ist.“ Hier bestehe Aufklärungsbedarf, so der Medizinethiker: „Menschen, die selbst betroffen sind, ändern meistens sehr schnell ihre Haltung zum Thema Organspenden.“ Gummert sagt, er wundere sich, dass viele Menschen Angst hätten, ein Arzt würde eine Behandlung zu früh unterbrechen, um die Spenderorgane zu bekommen. Die gleichen Menschen fürchteten sich davor, auf der Intensivstation zu lange an Geräten angeschlossen zu sein, weil sie lieber in Frieden sterben möchten. Diesen Widerspruch könne er sich nur mit einem generellen, aber vollständig unberechtigten Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem erklären. „Unsere Gesellschaft ist wachsam gegenüber jedem möglicherweise auch instrumentalisierten Verfahren der Verwertung menschlicher Körper“, sagt Frewer: „Dass wir diese kritische Debatte in Deutschland haben, ist wichtig. Gerade die Ärzteschaft wird hier noch viel Aufklärungsarbeit leisten müssen.“