TEIL 2 | Wenn mit dem Krebs auch die Angst in dich reingekrochen ist, wirst du sie nicht so leicht wieder los. Das musst du aber gar nicht – es reicht schon, mit ihr umgehen zu können.
Was jetzt folgt, ist keine Checkliste nach dem Motto „Man nehme und hake ab“. Schön wäre es. Aber es ist ein Versuch, den Stier bei den Hörnern zu packen und zumindest ein bisschen Autonomie zu gewinnen. Denn: Für alle Situationen im Verlauf deiner Krebserkrankung, also nach der Diagnose, im Verlauf der Therapie, bei Rückschlägen und niederschmetternden Nachrichten – und eben auch nach der überstandenen Behandlung – gibt es Strategien, die jeder anwenden kann, um seine Ängste besser in den Griff zu bekommen.
Das gilt aber ebenso für jeden, der eine schwerwiegende, lebensverändernde, chronische Erkrankung hat oder sich davor fürchtet, aber auch für Angehörige und Unterstützer.
Es beginnt damit, dass du dir überlegst oder besser noch notierst, wie deine Angst aussieht. In dieser Aufstellung habe ich auch versucht, mögliche Ängste von Ärztinnen und Ärzten sowie dem Pflegepersonal aufzunehmen, die bitte beispielhaft zu verstehen sind. Beschreibe und ordne ein:
Was ist es bei dir? Wie heißt deine Angst? Meine Bitte an dich: Nimm dir einen Zettel, ein Notizbuch oder dein Tagebuch und notiere dir, mit welchen Ängsten du zu kämpfen hast.
Atme erst mal tief durch und mache dir klar, dass deine Ängste in dieser Situation kein absonderliches Phänomen sind. Alles, was vorher verlässlich erschien, gut funktionierte, ist ins Wanken geraten. Deine Welt ist aus den Angeln gehoben. Zeige mir irgendjemanden, der da keine Angst hat. Du wirst ihn nicht finden.
In diesem ersten Gespräch mit dir selbst, gehört auch dazu, zu verstehen, dass Ängste ihre Berechtigung haben. Andere, gesunde Menschen haben ebenfalls Ängste. Du bist nicht Out of Order, im Gegenteil.
Denn in diesen Situationen meldet sich ein wichtiger Teil deines Gehirns, die Amygdala. Vor meiner Krebserkrankung wusste ich auch nicht, was das ist, jetzt, da ich mich damit befasst habe, umso mehr. Sie ist ein Teilbereich des limbischen Systems und ist – sehr verkürzt gesagt – unter anderem dafür da, in Gefahrensituationen die Ausschüttung von Botenstoffen wie Dopamin, Serotonin und Adrenalin auszulösen und uns auf Gefahren angemessen reagieren zu lassen. Das kann Flucht bedeuten oder aber Wehrhaftigkeit. Ängste sind Urinstinkte und überlebensnotwendig.
Kleines To-Do für dich: Wenn du magst, kannst du dir die für dich wichtigen Sätze aus dem zweiten Schritt unter die Benennung deiner Ängste schreiben. Dann hast du alles zusammen und auf einen Blick.
Das Verbalisieren ist ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Teil der Verarbeitung von Ängsten, aber auch für das Verarbeiten von belastenden Dingen, die bereits etwas zurückliegen.
Wer dein Gesprächspartner sein soll, legst natürlich du fest. Das können Freunde, Partner, Angehörige, deine Lieblingsmenschen sein, ein guter (Vertrauens-) Arzt oder eine Psychologin/Psychoonkologin. Bei egal wem gilt, nimm dir Zeit und versuche, so offen wie möglich zu sein.
Wenn du mit einem Arzt deine dich beängstigenden Fragen zur Diagnose oder Behandlung besprechen und ihm deine Gedanken mitteilen möchtest, dann mache dir unbedingt vorher Notizen. Denn ist etwas diffus oder unklar, wird unser schlechtes Gefühl genährt. Manchmal haben wir Vorstellungen von bestimmten Diagnosen, Verläufen, Therapien, die überhaupt nicht zutreffen. Detailfragen erklärt zu bekommen, kann dir schon einen großen Teil deiner Angst nehmen.
Man nennt das übrigens auch Subjektive Krankheitskonzepte. Wie schädlich diese irrigen Annahmen sein können, denen du aufgesessen bist, erfährst du in meinem Interview mit der Psychoonkologin Dr. Martina Preisler. Ein Beispiel für das von mir umgetaufte „Ich weiß Bescheid“-Syndrom: Stress macht krebskrank. Hier der Link.
Du kannst aber auch – wie ich es gerne tue – über deine Gefühle schreiben. Die Wahl fiel bei mir auf ein großes Notiztagebuch, in das ich auch schöne Bilder einklebe. Ganz im Vertrauen, als ich begann meinen Blog zu schreiben, war meine ursprüngliche Motivation, die Wut in mir herauszuschreiben, die Wut über den Einbrecher Krebs, die Wut darüber, mein altes Leben verloren zu haben und schließlich die Wut über diese fürchterliche Boutiqueverkäuferin, die meinte, (Kurzfassung) Krebspatienten sollten ihre Umwelt nicht mit ihren Problemen belästigen (die Langfassung könnt ihr hier lesen).
Erst viel später habe ich festgestellt, dass ich mir meine Gedanken von der Seele schreibe, all die Geschichten und Begegnungen, die sich angestaut hatten. Außerdem konnte (durfte) ich mich mit euch, mit anderen austauschen und kann jetzt sogar seit einiger Zeit wieder (relativ) angstfrei durchs Leben gehen. Das Schreiben war meine Therapie, sie hat mir geholfen, meine Ängste zu kanalisieren.
Welchen Weg du wählst, entscheidest du. Logisch. Denn natürlich gibt es kein Richtig, kein Falsch, keine Matrix. Ganz getreu dem Klassiker von Frank Sinatra: „I did it my way“!
Deine Aufgabe hier: Wenn du Fragen an die Ärztin/den Arzt hast, notiere sie. In der Aufregung vergisst man schnell, was man fragen wollte, daher gilt auch hier wieder: aufschreiben. Und noch viel wichtiger: Bringe deine Fragen, deine Beobachtungen auch an den Mann oder die Frau. Meint: Stelle sie!
Seit einiger Zeit habe ich auch einen Podcast. Nun, warum erzähle ich das gerade hier in diesem Zusammenhang? Klar, hatte ich auch Angst, dass mich ein Shitstorm trifft, meine Stimme nicht gut klingt, ich die Technik nicht beherrsche und meine Interviewgäste die Augenbrauen hochziehen, weil sie die Fragen banal finden.
Aber das ist gar nicht der Punkt, darum geht es mir nicht, sondern um einen Satz, den ein cooler Typ aus einem der unzähligen Video-Tutorials sagte: „Shit in, Shit out!“ Soll heißen: Du musst schon für das richtige Equipment sorgen, um einen guten Ton zu erzeugen. Später im Schnitt kriegst du das nicht mehr gut raus.
Was ich dir damit sagen möchte, errätst du sofort. Richtig: Mit deinen Gedanken ist es genau das Gleiche: „Shit in, Shit out“. Wir sehen leider oft nur die negativen Dinge und setzen keine Filter ein, die die schädliche Geräuschkulisse eindämmen könnten.
Es beginnt mit der Wahrnehmung, geht dann über das Denken (Urteilen) zum Fühlen und schließlich zum Handeln. Diese Kette wird in schneller Folge unbewusst ausgelöst. Jeder deiner Gedanken initiiert Prozesse im Körper. Das solltest du dir bewusst machen. Gute Gedanken schütten zum Beispiel Glückshormon wie Oxytocin und DHEA aus. Negative Gedanken dagegen Cortisol, das nach und nach deine Organe angreift. Ich übertreibe jetzt wahrscheinlich, aber manchmal vergiften wir uns tatsächlich selbst.
Der Tipp: Versuche, gedanklich nicht weiter die innere Kellertreppe herunter zu gehen, sondern veranlasse einen Gedankenstopp. Lenke die negativen in positive Gedanken um und durchbrich alte Verhaltensmuster. Tue etwas ganz Neues, überrasche dich selbst oder lenke dich schlicht einfach mal ab: Höre Musik, gehe spazieren, triff dich mit Freunden (Zoomen oder Skypen geht natürlich auch). Überlege dir Dinge, die dir gut tun.
Meine Bitte an dich: Beobachte deine Gedankengänge und leite sie bewusst um, wenn du merkst, du läufst die innere Kellertreppe runter. Nimm lieber den Aufzug zur Dachterrasse und genieße die Aussicht.
Wir alle haben früh begriffen, dass die Krebserkrankung für uns Neuland ist. Alte Kriseninterventionen oder das berühmte Trouble Shooting helfen nicht, da wir uns auf unbekanntem Terrain bewegen. Jeder, der bisher gewohnt war, von seinem Erfahrungsschatz zu profitieren oder immer Pläne in der Hinterhand hatte, sollten bestimmte Dinge nicht so laufen, wie gedacht, der kommt schnell an seine Grenzen und muss sie neu justieren.
Da kann es hilfreich sein, sich auf seine eigenen Ressourcen, seine Stärken zu besinnen oder auch Kraftquellen zu benennen und diese natürlich auch zu nutzen.
Überlege was das sein kann, und notiere sie dir so, dass du sie schnell parat hast, wenn du sie brauchst. Wenn du zu den kreativen Menschen gehörst, gestalte deine Auflistungen grafisch oder male ein Bild. Ziel ist es, sich diese wie auch immer gestaltete Liste gerne anzusehen, sie dir vor Augen zu halten. Sie soll ein wohliges Gefühl in dir auslösen, dir Kraft geben. Es reicht natürlich auch, wenn du dir deine Ressourcen, deine Stärken einfach immer mal wieder innerlich vorliest.
Was sind deine Stärken, deine Ressourcen?
Dir fällt garantiert etwas ein.
Kraftquellen können sein: die Natur, die Musik, Spaziergänge, Yoga, Achtsamkeitstraining, Meditation, Qigong, Sport, Mode, Sich-schön-machen, Kochen, dein Garten, dein Balkon, deine Tiere, Kuscheln mit deinem Partner, Massagen, ein Ausflug, ein Tapetenwechsel etc.
Deine Aufgabe hier: Du ahnst es schon – notiere dir deine Ressourcen, deine Stärken und deine Kraftquellen und nimm dir diese Liste immer wieder zur Hand und lies sie dir selbst vor, wie ein kleines Mantra. Aber vor allem: Setze deine Ressourcen und deine Kraftquellen ein!
Sechster Schritt: Der Krisen- oder Notfallplan
Das Prinzip, das hinter dem Aufstellen eines Krisen- oder Notfallplanes steckt, ist, das innere Gedankenkarussell zu verlassen und die Konzentration nach außen zu lenken.
Das Denken und Fühlen sind durcheinander, alles dreht sich und konzentriert sich auf die fatalistische „Alles-oder-Nichts“-Einstellung. Gefühle sind entweder gar nicht mehr wahrnehmbar oder sehr intensiv – Angst, Wut, Leere, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit, Trauer, Einsamkeit sind übermächtig. Wir sind gefangen in der Innensicht. Daher helfen in diesen Situationen Entspannungsübungen nicht, sie sind sogar kontraproduktiv, da sie die Beschäftigung mit der eigenen inneren Welt und letztlich die Anspannung verstärken.
Um die Balance zwischen Innen und Außen wiederherzustellen, hilft es, den Fokus mehr nach außen zu richten, die Welt um dich herum ins Bewusstsein zu holen. Gerade in der Nacht geben wir uns der Kraft der eigenen, quälenden Gedanken hin. Einsetzen kannst du deinen Notfallplan immer dann, wenn du merkst, dass deine Innenwelt die Regie übernimmt.
Es gibt aber Ereignisse, die förmlich nach einem solchen Plan rufen. Das sind weichenstellende Untersuchungen wie CT, PET-CT, Sonografie, Mammografien, Zwischenscreenings, Nachsorgeuntersuchungen, Biopsien oder Arztgespräche, die Aufnahme/Aufenthalte in der Klinik, das Gespräch mit dem Arbeitgeber, erste Gespräche mit den Angehörigen, den Kindern und, und, und.
Am besten ist, du teilst deine Maßnahmen oder Aktionen – wichtig ist das Tun, nicht das Denken – in nachts, abends und tagsüber auf.
Nachts: Ich mache mir meinen Lieblingstee, eine heiße Milch mit Honig.
Abends: Ich schaue mir eine Folge meiner Lieblingsserie an, höre ein Hörbuch, das mich inhaltlich etwas fordert und meine Gedanken in eine andere Richtung bringt, ich löse ein Rätsel/Sudoku, räume die Küche auf, ich nehme eine Dusche (heiß/kalt), mache mir eine Wärmflasche.
Tagsüber: Ablenken, ablenken, ablenken.
Meine Empfehlung für dich: Erstelle deinen Plan und nutze ihn, wenn du ihn brauchst.
Eine gute Technik ist die „5-4-3-2-1-Übung“ nach Yvonne Dolan. Sie ist so angelegt, dass du dich voll auf das Hier und Jetzt, auf die Gegenwart konzentrierst. Sie kann übrigens auch eine gute Einschlafhilfe sein: Schäfchen zählen mal anders.
Du kannst diese Übung mit geöffneten oder später mit geschlossenen Augen machen. Schön ist, wenn du eine für dich angenehme Position einnimmst und dir ein kuscheliges Plätzchen suchst. Das hilft, den Effekt zu verstärken, ist aber nicht zwingend notwendig.
Du beginnst mit geöffneten Augen.
a) Richte den Blick auf einen Punkt im Raum (kann auch ein Platz draußen sein) und zähle nacheinander – laut oder in Gedanken – fünf Dinge auf, die du siehst (z. B.: „Ich sehe die Gardine“).b) Dann fünf Dinge, die du hörst (z .B. „Ich höre einen Vogel zwitschern“).c) Schließlich fünf Dinge, die du spürst (z. B. „Ich spüre das kuschelige Kissen in meinem Rücken“).
Diese drei Aufzählungen gehst du ein erneutes Mal – mit anderen Sichtpunkten/Gegenständen, Geräuschen, spürbaren Dingen – durch und reduzierst die Anzahl immer um eine Sache. Bis du schließlich bei Eins angelangt bist. Wenn du magst, beginne von vorn.
Wichtig: Bei der Umsetzung dieser Übung gibt es kein Richtig oder Falsch. Wenn du zum Beispiel immer wieder dieselben Dinge benennst, so ist das genau deine derzeitige Wahrnehmung. Verzählen oder Abschweifen mit den Gedanken ist auch kein Problem. Mache einfach da weiter, wo du gerade stehengeblieben bist.
Mein Tipp für die Umsetzung: Du kannst diese Übung schon vor der Panik trainieren, so fällt es dir leichter sie anzuwenden, wenn eine Paniksituation tatsächlich heranrollt. Denn wie oben erwähnt, eignet sie sich auch, um mehr zur Ruhe zu kommen oder einzuschlafen.
Ich wünsche dir viel Erfolg bei der Umsetzung meiner 7 Schritte und hoffe sehr, dass ich helfen konnte.
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