In Großbritannien wurde eine neue SARS-CoV-2-Variante entdeckt und sorgt europaweit für Aufregung. Was wir bisher über sie wissen.
Mehrere Länder haben den Flugverkehr in das Vereinte Königreich bereits eingestellt, um die Ausbreitung der neuen Corona-Variante einzudämmen. Seit der Nacht auf Montag ist auch Deutschland dabei. Was macht diese neue Variante so besonders?
In der letzten Woche hatten britische Behörden die WHO über eine neue SARS-CoV-2-Linie informiert. Die Variante mit dem Namen B.1.1.7 oder VUI-202012/01 („Variant under Investigation“) breite sich seit September in Südengland rund um Kent und London aus.
Jetzt haben britische Forscher des COVID-19 Genomics Consortium (COG-UK) einen vorläufigen Steckbrief des B.1.1.7.-Clusters veröffentlicht.
Insgesamt weist das Cluster ganze 17 neue Mutationen auf, allein acht betreffen das Spike-Protein. Das ist insofern brisant, als dass dortige Mutationen das Virus theoretisch ansteckender machen könnten.
Unter besonderer Beobachtung des COG-UK stehen dabei der Austausch von Aminosäuren an fünf Positionen der Aminosäuresequenz (D614G, A222V, N439K, Y453F und N501Y) sowie die Mutation, die zur Deletion von zwei Aminosäuren führt (69-70del). Sie sind von großem Interesse, weil sie am ehesten funktionale Auswirkung auf die Eigenschaften des Virus haben könnten. Insbesondere zwei dieser Mutationen haben Wissenschaftler im Blick:
Ein Aminosäureaustausch oder -verlust (nicht-synonyme Mutation) ist oft die Konsequenz einer Punktmutation. Dabei handelt es sich um eine Genmutation, bei der sich nur eine einzelne Base verändert. Doch eine Punktmutation muss nicht immer einen Aminosäureaustausch oder eine Deletion zur Folge haben. Auch sogenannte stille Mutationen können vorkommen. In dem Fall hat sich zwar die Nukleotidabfolge geändert, doch diese codiert nach wie vor für die gleiche Aminosäure (synonyme Mutation). Die Abfolge der Aminosäuren im Protein ändert sich dadurch nicht. Bei der B.1.1.7.-Linie wurden insgesamt 6 synonyme Mutationen gefunden.
Mit ihrem engen Überwachungssystem können Wissenschaftler beinahe in Echtzeit mitverfolgen, wie sich das Virus genetisch verändert. Bei Corona-Varianten, die in der Bevölkerung zirkulieren, bewegte sich die Rate bislang bei überschaubaren 1 bis 2 Mutationen pro Monat. Ungewöhnlich ist, dass die neue Variante plötzlich 17 verschiedene Mutationen aufweist. Es scheint fast so als hätte es all diese Mutationen auf einmal entwickelt. Phylogenetische Untersuchungen ergaben, dass es fast keine Zwischenformen gab.
Forscher des COG-UK Konsortiums haben dafür eine Erklärung. Sie vermuten, dass diese Linie in einem immunsupprimierten Patienten entstanden sein könnte. Denn bei Patienten mit schwachem Immunsystem hat SARS-CoV-2 die Möglichkeit, besonders häufig zu mutieren. Das konnten Studien bereits zeigen. Insbesondere wenn chronisch infizierte Patienten mehrmals mit Rekonvaleszentenserum behandelt werden, weisen die Viren eine ungewöhnlich hohe Zahl an Mutationen auf.
Hier lässt sich Evolution im Zeitraffer beobachten, denn bei der Antikörper-Therapie von immunsupprimierten Patienten sind die Viren einem besonders hohen Selektionsdruck ausgesetzt. Aus der großen Zahl sich vermehrender Viren werden jene selektiert, die sich dem Angriff effektiver Antikörper entziehen können. Das führt zur Anhäufung verschiedender Mutationen.
Ob sich die B.1.1.7.-Linie tatsächlich schneller ausbreitet, können Wissenschaftler noch nicht mit Sicherheit sagen. Premierminister Boris Johnson behaupte am Wochenende sie sei um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bekannte Form. Unklar ist allerdings woher Johnson diese Zahl nimmt.
Möglicherweise könnten auch Superspreading-Ereignisse für die massive Ausbreitung dieser Variante verantwortlich sein. Dann wäre es schlicht Zufall, dass sich gerade diese Variante im Süden von England vermehrt nachweisen lässt. Unklar ist auch, ob diese Variante zu schweren Erkrankungen führt oder die Wirksamkeit einer Impfung beeinträchtigt. Dafür gibt es bislang keine Anhaltspunkte.
Experten der „New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group“ (NERVTAG) in Großbritannien schreiben vorsichtig, es bestehe „moderates Vertrauen“, dass VUI-202012/01 zu einer „wesentlichen Steigerung der Übertragbarkeit im Vergleich zu anderen SARS-CoV-2-Varianten führen könnte“. Für eine mögliche Erhöhung des R-Wertes der Variante geben sie dort eine große Spannweite von 0,39 bis 0,93 an, was zeigt, wie unsicher diese Schätzungen noch sind. Erste Berichte zitierten einen Wert von 0,4.
Prof. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf erklärt: „Die Tatsache, dass die Variante sich so rasch in England verbreitet, lässt schon vermuten, dass die Übertragung dieser Variante effizienter ist. Das bedeutet nicht, dass die Variante auch eine schwerere Erkrankung auslöst.“ Dazu gebe es keine gesicherten Daten, dem ersten Eindruck zufolge sei das aber nicht der Fall. „Die angegebene Erhöhung des R-Werts für die Variante um 0,4 basiert nach meinem Verständnis auf Vergleichen der R-Werte aus Regionen mit dieser Variante und Regionen, in denen die Variante nicht vorkommt. Das können natürlicherweise nur grobe Schätzungen sein.“
In Deutschland wurde die B.1.1.7-Variante bislang noch nicht nachgewiesen. Allerdings werden in Deutschland nicht wie im COG-UK Konsortium des Vereinigten Königreich fünf bis zehn Prozent aller positiven Virusproben komplett sequenziert. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass die neuartige Virus-Variante bereits nach Deutschland eingeschleppt wurde. „Vermutlich ist die im Vereinigten Königreich gefundene Variante auch schon in Deutschland zu finden, aber ob nur ganz vereinzelt oder als substanzieller Bruchteil, ist nicht klar“, meint Prof. Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien von der Universität Basel.
Virologe Christian Drosten teilt diese Meinung. Er sei deshalb aber nicht besorgt, sagte er im Deutschlandfunk. Er wolle die Lage allerdings auch nicht verharmlosen und sei – wie alle anderen auch – in einer „etwas unklaren Informationslage“.
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Bildquelle: Waldemar Brandt, unsplash