Die Diskussion um die Rolle von Kindern in der Pandemie spitzt sich zu. Fest steht: Wir haben jetzt eine völlig andere Situation als im Sommer.
Während in Deutschland die Entscheidung ansteht, wie es mit Schulen und Kindergärten in den nächsten Wochen weitergeht, bleibt die Diskussion um die Rolle von Kindern in der SARS-CoV-2-Pandemie mehr als abenteuerlich. Bei kaum einem anderen Thema wird derart verbissen um die Deutungshoheit über den Datenstammtischen gekämpft. Bei kaum einem anderen Thema wird jede neue Meldung derartig aggressiv durch die sozialen Medien gejagt – während gleichzeitig die medizinischen Brennpunkte der Pandemie, die Alten- und Pflegeheime, fast irritierend nüchtern thematisiert werden. Auch Krankenhaus-Cluster, die extrem häufig sind, werden kaum erwähnt. Auf die Idee, eine Landkarte der Krankenhausausbrüche online zu stellen, würde niemand kommen. Bei Schulen gibt es Menschen, die das völlig normal finden.
Die vergangenen Tage lieferten einmal mehr Anschauungsunterricht über Kinder in der Pandemie. Das Thema betrifft keineswegs nur Deutschland. Eine Meldung aus dem King’s College Hospital in London sorgte am Wochenende für weltweite Verwirrung: Laura Duffel, Oberschwester, sagte der BBC, es würden zur Zeit immer mehr Kinder und Jugendliche in die Klinik gebracht, die schwere Verläufe der Krankheit durchmachten. Sie habe „eine ganze Station von Kindern und Jugendlichen mit COVID-19“. Hintergrund ist die sich in England rapide ausbreitende SARS-CoV-2-Mutation B117.
Nachdem die Nachricht aus London um den Globus gegangen war und viele Eltern beunruhigt hatte, musste die BBC korrigieren. Die Geschichte hatte sich als Falschmeldung entpuppt. Pädiater aus dem halben Land meldeten sich zu Wort und dementierten, am lautesten das Royal College of Paediatrics and Child Health (RCPCH). Das Virus setze die Kinderstationen im ganzen Land entgegen der Aussage Duffels nicht unter erheblichem Druck, so der Tenor der Pressemitteilung der RCPCH. Die überwiegende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen habe keine oder nur leichte Symptome, das habe sich auch mit der neuen Virus-Variante bisher nicht geändert.
Überhaupt die neue Virusvariante B117 und Kinder. Auch hier aggressive Kommunikation allerorten, bei gleichzeitig maximaler Unklarheit der Datenlage. Erhöhen die Mutationen von B117 die Infektiosität bei Kindern und Jugendlichen stärker als in anderen Altersgruppen? Erste Daten hatten darauf hingedeutet, dass die Infektiosität der neuen Virusvariante bei unter 20-Jährigen ähnlich hoch, vielleicht sogar höher sein könnte als in anderen Altersgruppen. Bis dahin war weitgehend Konsens, dass Kinder und Jugendliche SARS-CoV-2 übertragen können, aber nicht in dem Ausmaß wie Erwachsene, schon deswegen nicht, weil sie viel seltener symptomatisch sind.
Als die B117-Daten bekannt wurden, ging das Kinder-Feuerwerk in den sozialen Medien sofort los und ebbte bis heute nicht ab. Neue Daten und Auswertungen haben jetzt freilich starke Zweifel an der These gesät. Die Infektiosität in unterschiedlichen Altergruppen ist in Zeiten partieller Lockdowns, insbesondere offener Schulen, extrem schwer zu beurteilen: „B117 ist insgesamt leichter übertragbar, über alle Altersgruppen hinweg“, twitterte die Virologin und Public Health Expertin Prof. Dr. Muge Cevik. Sie hat sich mehr als jeder andere mit der Übertragbarkeit von SARS-CoV-2 in Abhängigkeit von Symptomen und Alter beschäftigt. Bisher gebe es keine überzeugende Evidenz, die darauf hindeuten würde, dass bestimmte Altersgruppen besonders anfällig seien, so Cevik, die dem Thema eine ganze Twitter-Abhandlung aus insgesamt knapp 40 Tweets gewidmet hat.
Unabhängig von diesem Streit gilt mittlerweile als völlig unstrittig, dass Kinder SARS-CoV-2 übertragen können und auch als Index-Patienten von Clustern in Erscheinung treten. Sichtbar ist das etwa in Daten der nationalen Statistikbehörde ONS (Office for National Statistics) aus Großbritannien. Hier liegt der Anteil an Schulkindern bei den positiven Corona-Tests sogar besonders hoch. Den höchsten Zuwachs verzeichnen im Dezember Kinder an Sekundarschulen, das heißt etwa ab einem Alter von zwölf Jahren aufwärts.
Auch hier verzerrt der Lockdown mit offenen Schulen aber das Bild. Die Frage ist zudem, was diese Zahlen für das Thema Schulöffnung bedeuten, insbesondere dann, wenn in den Schulen Masken genutzt werden. Klar ist: Auch die britischen Zahlen können nicht zeigen, ob sich die Kinder im Unterricht angesteckt haben oder außerhalb.
Umso fraglicher ist es, welchen Wert solche Studien bei der Argumentation für oder gegen weitere Schulschließungen überhaupt einnehmen können. Kurzfristig ist kaum mit eindeutigen und belastbaren Aussagen zur Rolle von Kindern im Infektionsgeschehen zu rechnen. Denn gerade weil sie oft keine Symptome zeigen, sind längerfristige Testreihen nötig.
Klar ist, dass viele Länder unabhängig von allen Kinderdiskussionen derzeit an einem kritischen Punkt der Pandemie stehen. Die Situation ist eine völlig andere als im Sommer, wo bei Minimalinzidenzen aggressiv für Schulschließungen lobbyiert wurde, oft von Menschen, die selbst keine Kinder hatten. Heute sind die Intensivstationen überfüllt, und B117 droht, die Situation zu verschlimmern. Selbst konsequente Verteidiger offener Schulen wie der Kinderarzt Alisdair Munro aus Southamptom, UK, sind deswegen derzeit nicht prinzipiell gegen Schulschließungen. Sein Vorschlag: Wenn Schulschließungen, dann als letztes, und wenn Lockerungen, dann Schulen zuerst.
Ein Beitrag von Philipp Grätzel und Jane Schulz.
Bildquelle: CDC, unsplash