Menschen, die von der gewohnten Norm abweichen, fallen auf und sind eine Herausforderung für Familien und Gesellschaft. Die moderne Medizin erkennt Behinderungen pränatal zwar immer exakter, aber beantwortet längst nicht alle Fragen.
Der nicht-invasive Pränataltest (NIPT) ist mittlerweile nach mehr als 20 Jahren Forschung und Entwicklung in Millionen Fällen zum Einsatz gekommen. Elternpaare sind heute durch Recherchen im Internet sehr gut informiert und nehmen die pränatalen Tests fast selbstverständlich an. Besonders dann, als ein einfacher Bluttest auf den Markt kam und damit invasive Verfahren, wie Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie, in den Hintergrund gerieten.
Der Vorreiter in Europa kam aus Konstanz:
„Seit 2010 entwickeln wir klinisch validierte, nicht invasive genetische Tests. Zwei Jahre später brachten wir mit dem PraenaTest® den ersten nicht invasiven pränatalen Test (NIPT) in Europa auf den Markt. Damals bestimmte er die Trisomie 21, die zum Down-Syndrom führt. Jetzt untersucht er den kompletten Chromosomensatz auf mögliche Veränderungen.“
Mittlerweile stehen in Deutschland auch Tests anderer Firmen zur Verfügung. Es geht besonders um den frühen Nachweis von fetalen Trisomien, vor allem der Chromosomen 21, 18 und 13, sowie Anomalien in der Anzahl der Gonosomen. Durchgeführt werden kann der Test ab der 10. SSW und ist eine Selbstzahler-Leistung, die nur in medizinisch begründeten Einzelfällen zur Kassenleistung wird. Alternativ dazu ist ein Ersttrimester-Screening, das aus der sonographischen Bestimmung der fetalen Nackentransparenz in Verbindung mit Laborparametern und Lebensalter der Mutter besteht. Dabei wird in der 11. (+0) bis 13. (+6) SSW ein statistisches Risiko für bestimmte chromosomale Fehlbildungen errechnet.
Was bei Diskussionen zum Thema Pränataldiagnostik gerne übersehen wird, ist die Tatsache, dass Chromosomenstörungen nur einen im Vergleich geringen Anteil an kindlichen Fehlbildungen ausmachen:
Quelle: Sturma, Dieter; Symposium der Stiftung für das behinderte Kind; 12.12.2020; Bonn Eine europaweite genaue Auflistung findet man hier.
Deshalb ist ein dezidierter Ultraschall um die 20. SSW wichtig. Hier geht es neben der Diagnostik insbesondere um eine adäquate Therapie. Kinder bei denen beispielsweise ein spezieller Herzfehler pränatal diagnostiziert wurde, können dann bevorzugt in großen Zentren, denen eine pädiatrische Herzchirurgie angeschlossen ist, geboren werden.
Auf einem virtuellen Symposium der Stiftung für das behinderte Kind wurden jetzt zusammen mit Vertretern des Uniklinikums Bonn die medizinischen, ethischen und rechtlichen Aspekte des nicht-invasiven Pränataltests diskutiert. In kurzen Impulsreferaten gaben Experten Statements zur aktuellen Situation, moderiert durch den Ärztlichen Direktor der Uniklinik Bonn und Vorsitzenden der Stiftung, Prof. Wolfgang Holzgreve.
Die leitende Medizinethikerin an der Universität Münster, Prof. Bettina Schöne-Seifert, wog das ethische Pro und Contra eines NIPTs ab. Starke Pro-Argumente stellen das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit und eigene Familieninteressen dar. Bei den Contra-Argumenten geht es um das Recht Dritter, dem des Embryos und dem von geborenen behinderten Menschen. Außerdem fürchte man um eine gesellschaftliche Fehlentwicklung, die dem allgemeinen Inklusionsgedanken widerspräche.
Das Selbstverständnis westlicher Medizin gehe von einer Entscheidungsautonomie aus. Allerdings sei diese an folgende Voraussetzungen geknüpft:
Zusammenfassend: Nicht-invasive Pränataltests können Hürden zwar senken, müssen aber keinen moralischen Druck ausüben, sondern ermöglichen im rechten Gebrauch Freiheit.
Prof. Bert Heinrichs, Direktor des Instituts für Ethik in den Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich, stellte seinem Vortrag ein persönliches Statement voran: „Ich teile die Kritik an der nicht-invasiven vorgeburtlichen Testung nicht, habe aber ein Unbehagen.“
Es gäbe drei Anwendungsszenarien der Pränataldiagnostik:
Die Gefahr bestünde, dass Menschen in Entscheidungssituationen hinein katapultiert würden, denen sie sich vorher gar nicht bewusst waren. NIPTs können durch eine relativ leichte Verfügbarkeit solche Situationen hervorrufen, da Vorüberlegungen und prinzipielle Entscheidungen leicht in den Hintergrund treten.
Geht es dann um die eigentliche Entscheidung, ob die Schwangerschaft erhalten oder abgebrochen werden sollte, entstehe eine große moralische Ambivalenz: „Medizinischen Innovationen haftet oftmals eine Art moralische Ambivalenz an. Sie nötigen uns Entscheidungen ab, die wir vielleicht nicht treffen wollen“, so Heinrichs.
Prof. Dieter Sturma, Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik an der Universität Bonn, bemerkte, dass es bei der Pränataldiagnostik auch um die Frage gehe, wer wir sind und was wir für ein Selbstverständnis haben. Letztendlich gäbe es auf diese schweren Fragen keine leichten und keine absoluten Antworten. Jeder Mensch habe die gleichen Grundrechte und müsse sein eigenes Leben verantworten.
Wissenschaft kann auch zu einer Bürde werden, die zu Differenzen zwischen verschiedenen Konflikten führt. Letztendlich muss auch Leben mit verschiedenen Standpunkten möglich sein. Manchmal gehe es um faire Regulationen, nicht unbedingt um Konsens. Es stelle sich letztendlich die eine Frage: „Werden wir gute Eltern sein für ein behindertes Kind?“
Klaus Zerres, emeritierter Professor für Humangenetik in Aachen und Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung für das behinderte Kind, erinnerte zunächst daran, dass das Risiko für eine Trisomie 21 bei einer 40-jährigen Frau bei ca. 1 % läge. Heute existierten andere Lebensmodelle, in denen ältere Frauen sich für wenige Schwangerschaften entscheiden würden.
Weltweit sei eine Zunahme der in Anspruch genommenen nicht-invasiven Pränataltests zu beobachten. Es habe einen Anstieg um etwa 71 % der pränatal diagnostizierten Trisomie 21 Fälle gegeben. Dadurch würden Schwangerschaften zwar als sicherer angesehen, andererseits befürchte man eine geringere Akzeptanz und schlechtere Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen. Es gäbe aber auch eine bewusste Vorbereitung auf ein Leben mit einem behinderten Familienmitglied durch die Pränataldiagnostik.
Als Humangenetiker verwies er auf den relativ kleinen Anteil, den Chromosomenstörungen im Verglich zu anderen fetalen Normabweichungen ausmachen, die aber durch die Bluttests weit in den Vordergrund geraten sind.
Ein Zitat aus dem Brief betroffener Eltern macht hellhörig: „Die beste Werbung ist, damit Kinder mit einem Down-Syndrom nicht abgetrieben werden, deren Familien zu fördern. Das ist ein gesellschaftlicher Auftrag.“
Schwierige Fragen lassen keine leichten Antworten erwarten.
Nicht unerheblich scheint es, den Entscheidungsprozess bereits vor einer pränatalen Untersuchung anzustoßen. Die Frage „Was würde ich tun, wenn eine Behinderung festgestellt wird?“ ist zwar im Theoretischen kaum abschließend beantwortbar, setzt aber einen wichtigen Denkprozess in Gang, der ausreichend Zeit erfordert.
Der Wunsch nach einem gesunden Kind ist das verständliche Grundbedürfnis eines jeden Elternpaares. Eine Garantie darauf existiert allerdings nicht. Auch die moderne Pränataldiagnostik stößt an ihre Grenzen. Und leider schützt sie die Gesundheit eines Neugeborenen nicht vor postnatalen Erkrankungen und Unfällen im weiteren Lebenslauf. Spätestens dann müssen Eltern lernen, Unvorhergesehenes anzunehmen und das jeweils Beste aus der Situation zu machen.
Im Praxisalltag geht es darum, ergebnisoffen zu beraten und alle Register an Hilfsmöglichkeiten zu ziehen. Elternpaare müssen vielleicht die schwersten Entscheidungen ihres Lebens fällen. Das benötigt Zeit, Empathie und keine schnellen Ratschläge.
Es geht um Freiheit, Selbstverantwortung und Resilienz. Aber auch um Werte. Und um Leben.
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