Hier geht es nicht um Datenschutz oder um böse Hacker. Denn die Corona-Warn-App hat noch viele andere Schwächen. Was mich besonders stört.
Geradezu gebetsmühlenartig lesen wir Tag für Tag von der „AHA+L+A“-Regel, denn „AHA“ war gestern. Wir sollen Abstand halten (gut untersucht), Hygieneregeln beachten (das weiß man eigentlich seit Ignaz Semmelweis´ Zeiten), Alltagsmasken tragen (besser FFP-2, es gibt viele Daten), Lüften (auch das wurde erforscht) – und die Corona-Warn-App nutzen.
Beim letzten Punkt frage ich, wo die Evidenz liegt. Per Bluetooth Low Energy werden Geräte in der Umgebung erkannt und – falls eine der Personen einen positiven Test hinterlegt – folgt die Warnmeldung. Das klingt nach Hightech. Und dennoch fehlen klinische Studien, um das mathematische Risikomodell zu bewerten. Sich zu sagen, die App werde schon ein bisschen helfen, aber zumindest nicht schaden, ist zu wenig.
Besagtes Prinzip, Risiken per Bluetooth zu erfassen, hat noch weitere Nachteile: Wer sich in Gebäuden, in Bahnen oder Bussen befindet, sollte nicht darauf vertrauen. Denn je nach Material der Umgebung werden elektromagnetische Signale stärker oder schwächer abgeschirmt. Aber, Überraschung: Viren bleiben dennoch in der Raumluft als Aerosole eine gewisse Zeit aktiv.
Für die App benötigen User ein Smartphone mit der Android-Version 6.0 beziehungsweise iOS 13.5 oder neuer. Nicht alle Menschen sind Digital Natives oder Silver Surver. Gerade Senioren verwenden ihre Geräte vielleicht nur zum Telefonieren. Sie haben nicht den neuesten Schnickschnack. Aber genau diese Personen sind eben bei SARS-CoV-2 die bekannt-berüchtigte Risikogruppe. „Es ist wirklich ein Problem, dass die App nur auf neueren Smartphones läuft. Dadurch lässt sie ausgerechnet Ältere oder Menschen mit wenig Geld außen vor“, so Grünen-Chef Robert Habeck.
Bei der Corona-Warn-App zählt eigentlich die Masse: je mehr Menschen das Tool installieren, desto besser. Denn ein Risikokontakt wird nur erfasst, wenn beide Personen das kleine Programm installiert haben. „Das Problem ist, dass Apps nahezu allgegenwärtig sein müssen, um effektiv zu sein“, schreibt der Harvard Business Report generell zu solchen Apps.
Wo liegen wir? Statista nennt bis Mitte Dezember insgesamt 24,2 Millionen Downloads der App. Dem stehen rund 60 Millionen Smartphone-Nutzer gegenüber. Und dafür wurden allein im Juni 2020 rund 9,3 Millionen Euro für das Marketing verbrannt. Bis November 2020 belaufen sich die Kosten rein zur Bewerbung der App auf schätzungsweise 13 Millionen Euro.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie bestätigt dies: Von 1.972 Befragten nutzten 681 die Corona-Warn-App nicht. Als Gründe nannten sie Bedenken in Bezug auf den Datenschutz, die Effektivität der App zur Eindämmung der Pandemie oder nicht geeignete Mobiltelefone. „Die Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Warn-App-Kampagnen vor Veröffentlichung der App die Bedenken von App-Ablehner*innen zum Datenschutz und zur Effektivität nicht vollständig ausräumen konnten“, heißt es in einer Pressemeldung. Die Autoren empfehlen, sich bei der künftigen Kommunikation auf bestimmte Zielgruppen zu konzentrieren. Personen ohne App sind laut Studie im Durchschnitt meist älter, weiblich und gesünder.
In der Praxis treten noch ganz andere Probleme auf. Die App kann aufgrund ihrer Konzeption nicht verhindern, dass ein Index-Patient vor der digitalen Warnung andere Personen ansteckt. Kommen Testergebnisse zu spät aus dem Labor, was Anfang August 2020 bei einer großen Rückreisewelle passiert ist, erreichen Warnungen per App die User zu spät. Anfangs waren auch zu wenige Labore oder Gesundheitsämter Teil des digitalen Workflows. Um positive Testergebnisse einzubinden, bleibt ansonsten nur die Verifikations-Hotline inklusive teleTAN. Auch das kostet wertvolle Zeit.
Uwe Kamann, Abgeordneter im Deutschen Bundestag, schätzt, dass die App bis Ende 2021 Gesamtkosten von 67,45 Millionen Euro verursachen wird. Das Geld hätte man definitiv sinnvoller investieren können, etwa in Produktionsstätten für Impfstoffe.
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