Sie haben es wieder getan: Schrappe und Co legen ihr siebtes Thesenpapier zur COVID-19-Pandemie vor. Sie verteidigen die Impfkampagne und sehen Defizite beim Lockdown und in der Kommunikation.
Virologische Expertise ist zentral wichtig bei der COVID-19-Pandemie, aber sie ist nicht alles. Versorgungsexpertise, sei es beim Thema Prävention oder beim Thema Impfung, kommt immer noch zu kurz. Dabei gibt es sie, allerdings teilweise etwas abseits der „üblichen“ Kanäle, auf die die mediale Öffentlichkeit sonst so blickt. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) hat schon sehr früh in der Pandemie mit seinem Corona-Dashboard ein starkes Zeichen in Richtung nicht nur infektionszahl-, sondern auch versorgungsbasiertem Pandemiemanagement gesetzt. Bezeichnenderweise nutzt es die breitere Öffentlichkeit erst, seit die Versorgungslage kritischer ist, während es in den Sommermonaten, in denen die Situation entspannt war, von kaum jemandem zur Kenntnis genommen wurde.
Impfungen okay, Schutz von Risikogruppen katastrophal
Eine zweite, sehr spannende Quelle für Versorgungsexpertise bei der COVID-19-Pandemie ist eine Art Freelance-Expertengruppe um Prof. Matthias Schrappe. Er war lange Jahre Mitglied im Sachverständigenrat des Bundesgesundheitsministeriums, langjähriges Vorstandsmitglied im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung und von 2009 bis 2011 Direktor des Instituts für Patientensicherheit der Universität Bonn. Schon Ende März hat Schrappe weitere Experten um sich geschart, und diese Gruppe legte Anfang April ihr erstes Thesenpapier zur Corona-Pandemie vor.
Seit Sonntag gibt es jetzt das siebte derartige Papier, und es stellt der deutschen Pandemiepolitik einmal mehr ein mehr als durchwachsenes Zeugnis aus. Mitgeschrieben haben die ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Hedwig François-Kettner, der ÖGD-Experte Dr. Matthias Gruhl, der Jurist Prof. Dieter Hart, der Ex-Krankenkassenvorstand Franz Knieps, Prof. Philip Manow vom SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Prof. Holger Pfaff vom Zentrum für Versorgungsforschung, Prof. Klaus Püschel, Rechtsmediziner am UKE in Hamburg und der Gesundheitsökonom Prof. Gerd Glaeske.
Zwei Schwerpunkte sind diesmal die Impfungen sowie ältere Menschen und vulnerable Gruppen. In Ultrakurzform: Während die Experten mit der Impfkampagne bisher in weiten Teilen einverstanden sind, gilt das für den Lockdown nur bedingt und für den Schutz der älteren Menschen überhaupt nicht.
„Impfkampagne ist kein Selbstläufer“
Was die Gesamtstrategie der Impfkampagne angeht, halten die Experten das primär auf ältere Zielgruppen und Heilberufler fokussierte Vorgehen in der ersten Impfphase für „angemessen und notwendig“. Verwiesen wird auf die wöchentlichen Inzidenzen von mehr als 700/100.000 bzw. mehr als 450/100.000 bei den über 90-Jährigen bzw. 85–89-Jährigen in Kalenderwoche 51 sowie auf die hohe Sterblichkeit in der achten, neunten und zehnten Lebensdekade von in Deutschland 6,5 % respektive 13 % respektive 17 %, gegenüber 0,002 % bis 0,09 % bei den unter 40-Jährigen.
Der Fokus auf die älteren Menschen bei der Impfkampagne gehe aber insbesondere bei den Hochbetagten einher mit spezifischen (Versorgungs-)Schwierigkeiten, die es zu adressieren gelte: „Eine Impfkampagne ist kein Selbstläufer.“ Es wird deswegen davor gewarnt, zu hohe Erwartungen zu schüren. Erfolgsdruck sei genauso wenig zielführend wie schlechte Kommunikation.
Die Experten sprechen hier ohne Zweifel einen wunden Punkt an: Wenn als Erfolg der Impfkampagne einzig die Verringerung der Infektionen zählt, dann werden wir möglicherweise noch sehr lange auf „Erfolgsmeldungen“ warten müssen, auch wenn die Sterblichkeit nach Durchimpfung der Risikopopulation stark zurückgehen sollte. Man könne „davon ausgehen, dass die Melderaten kaum auf die Impfungen reagieren werden“, so Schrappe und Co als Resultat eine Überschlagsrechnung.
Für nicht zielführend halten es die Experten auch, den Erfolg der deutschen Impfkampagne allein an einer undifferenziert wiedergegebenen Impfquote festzumachen. Angeregt wird stattdessen die Entwicklung eines multidimensionalen Scores, der, zum Beispiel auf regionaler Ebene, auch andere medizinische und soziale Faktoren einbezieht, darunter Komplikationen, Compliance, Umsetzung in Organisationen und Haltung der jeweiligen Führungsebene.
An der prinzipiellen Effektivität der beiden zunächst in Deutschland zum Einsatz kommenden RNA-Impfstoffe haben die Experten keinerlei Zweifel. Sie weisen darauf hin, dass der immer wieder kommunizierte 95%-ige Schutz sich auf symptomatische COVID-19-Erkrankungen beziehe, nicht auf Infektionen per se. Die Daten zu Infektionen liegen noch nicht oder aus einzelnen Studien nur ansatzweise vor. Insgesamt hätten Geimpfte auf Basis der BioNTech- und Moderna-Studie ein zwanzigmal niedrigeres Risiko einer symptomatischen COVID-19-Erkrankung.
Das deutsche Lockdown-Desaster, oder: Alte sterben trotzdem
Generell müsse die Corona-Impfung nicht als Einzelmaßnahme begriffen werden, sondern als Teil einer umfassenden Präventionsstrategie, betonen Schrappe und Kollegen. Und hier, das schreiben sie so nicht, aber es steht zwischen allen Zeilen, ist die deutsche Performance eine Katastrophe. Das fällt mittlerweile auch international negativ auf: Die Londoner Epidemiologin Jenn Dowd packte diese Beobachtung auf Twitter am Wochenende wunderbar lakonisch in die Frage: „Can anyone shed light on the incongruity b/t cases & deaths per capita [in Deutschland, die. Red.] compared to other countries?”
Schrappe und Co liefern in ihrer Publikation quasi die Antworten auf Dowds Frage. 85 Prozent der COVID-19 Toten in Deutschland sind älter als 69 Jahre. Während im Dezember in allen Altersklassen eine Abflachung der Infektionszahlen beobachtet wurde, ging es bei den Hochbetagten rasant nach oben. An einem beliebigen Tag im Januar, die Autoren nehmen den 5. Januar, traten fast 30 Prozent aller berichteten Infektionen in Deutschland in Pflegeheimen auf. Nun gibt es Virologen, die es schaffen, selbst das noch auf offene Schulen zu schieben. Schrappe und Co kommen aber zu einem anderen Schluss: „Die Lockdown-Politik ist gerade für die vulnerablen Gruppen wirkungslos.“
Und weiter: „Es besteht die paradoxe Situation, dass eine mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbundene Lockdown-Politik durchgesetzt wird, ohne andere in Betracht zu ziehen und über einen dringend notwendigen Strategiewechsel überhaupt nachzudenken, obwohl die am stärksten Betroffenen, die höheren Altersgruppen und Pflegeheimbewohner/Innen, durch einen Lockdown nicht geschützt werden.“
Konkrete Maßnahmen auf Ebene der Pflegeheime bzw. zum Schutz von Risikogruppen hatten die Autoren in vergangenen Papieren wiederholt thematisiert.
Gesucht: „Wiederherstellung des öffentlichen Diskurses“
Ein eigenes Kapitel bekommt der öffentliche Diskurs über die Corona-Pandemie, der „eine problematische Störung“ aufweise. Die Autoren konstatieren eine Tendenz zur Polarisierung und warnen vor einer Gefahr durch „Gruppendenken in geschlossenen Gemeinschaften“ sowie einer Rückkehr von mehr eminenz- als evidenzbasierter Expertise. In solchen Diskurs-Bubbles würden einfache und schnelle Antworten angeboten, was der Lösung komplexer Probleme letztlich im Weg stehe.
Dies lasse sich auch an der Politik verdeutlichen, die in Corona-Zeiten als „administrative Umsetzung von Forschungsergebnissen“ inszeniert werde. Wie das funktioniert, wird anhand des Grenzwerts von 50 pro 100.000 Infektionen pro Woche verdeutlicht, der angeblich die Grenze dessen markiert, was die Gesundheitsämter bewältigen können und der deswegen sogar gesetzlich verankert wurde.
Das ist, darauf wurde oft hingewiesen, schon deswegen absurd, weil der Wert – deutlich sichtbar über den Jahreswechsel – stark von der Intensität des Testens und eben nicht nur von der Infektionslage abhängt: „Ein angesichts des diffusen Infektionsgeschehens schon seit Längerem illusorisches Paradigma der Nachverfolgung begründet dadurch einen Wert, der seinerseits staatliche Maßnahmen mit enormen sozialen, psychischen, ökonomischen usw. Folgekosten begründet, ohne dass darüber eine breite öffentliche Debatte geführt werden würde.“
Und weiter: „Als je unrealistischer sich dabei die Erreichung des Inzidenzziels erweist, desto klarer zeigt sich, wie sich die Politik in ihrer eigenen Grenzwertlogik verfangen hat, weil sie nun nur noch unter Aufgabe ihres zentralen Handlungsindikators [...] aus dem Szenario eines bis weit in den Frühling verlängerten Lockdowns herausgelangen kann.“
Das 7. Thesenpapier der Autorengruppe um Prof. Matthias Schrappe ist unter diesem Link zu finden.
Bildquelle: Matthew Bennett, Unsplash