Vor allem junge Männer und Frauen stehen auf Selftracking, das Sammeln von Daten über den eigenen Körper. Meist geht es um die Selbsterkenntnis und die Optimierung auf Zahlenbasis. Doch der Trend birgt auch Risiken und könnte zu einem Umbruch im Gesundheitssystem führen.
Kaffeekonsum, Urin-pH-Wert, gelaufene Schritte, Aufwachen zum optimalen Zeitpunkt … Es gibt unzählige Möglichkeiten der Selbstoptimierung durch „Selftracking“ – einer Bewegung, die 2007 unter dem Namen „Quantified Self“ in den USA aufkam und auch in Deutschland immer mehr Anhänger findet.
„Selftracker“ tragen beispielsweise einen Schlafphasenwecker in Form eines Stirnbands. Dieses zeichnet die ganze Nacht über Hirnströme auf und weckt seinen Träger genau dann, wenn sich der Körper natürlicherweise dem Aufwachen nähert – natürlich in einer vorher bestimmten Zeitspanne. „Das funktioniert richtig gut“, berichtete der Björn Ewers, freier Fotograf aus Berlin, gegenüber DocCheck. Nach dem Aufwachen lässt sich auf dem Smartphone die individuelle Schlafkurve nachverfolgen. Ein Score kombiniert mit vielen bunten Linien und Diagrammen verrät, ob man in der Nacht gut geschlafen hat. Manche „Sleeptracker“ erfassen sogar die Herzfrequenz, Umgebungsgeräusche und Lichtverhältnisse im Raum und zeichnen so ein detailliertes Bild von der Schlafqualität des Anwenders.
„Quantified Self“ ist mehr als pures Datensammeln. Es ist auch eine Lebenseinstellung: „Selftracking mache ich hauptsächlich zur Eigenmotivation beim Sport. In Verbindung mit Freunden und Bekannten kann aus den Daten eine unterhaltsame Challenge entstehen“, erklärte Ewers weiter. Anhänger der Bewegung treffen sich jedes Jahr in San Francisco und Amsterdam, um sich über Neuigkeiten der Branche auszutauschen. Auch in Deutschland entstehen derzeit immer mehr regionale „Quantified Self“-Gruppen. Vor allem technikaffine Männer sind von den neuen Programmen und Geräten zur Körpervermessung begeistert.
Den meisten Anwendern geht es um Selbsterkenntnis durch Zahlen, aber auch um den Ansporn, sich zu verbessern. Der Hamburger Jungmanager und Selftracker Benedikt Schaumann sagte in einem Interview: „Beim Selftracking habe ich gemerkt, dass die Transparenz gegenüber den eigenen Handlungen einen sehr viel stärker auf dem Pfad hält und der soziale Druck über die Community hilfreich für die eigene Motivation ist.“ Als „Einstiegsdroge“ fungiert bei vielen Selftrackern ein Schrittzähler, den man sich unkompliziert an den Hosenbund klemmen kann. Auch andere „Wearables“ – kleine, am Körper tragbare Geräte wie Fitbit, Shine und Jawbone – sammeln ständig Fitnessdaten ihrer Nutzer ein. Unter Läufern ist vor allem die App „runtastic“ beliebt. Mit ihr lassen sich gelaufene Kilometer, aber auch geschaffte Liegestützen und verbrauchte Kalorien mit Freunden und „Followern“ teilen. Eine Computerstimme motiviert und informiert während des Trainings.
Doch Selftracking kann mehr sein als eine technische Spielerei und Motivationshilfe. Ärzten und Patienten können die neuen Tools hilfreiche Daten liefern. Mit Apps lassen sich mittlerweile Diäterfolge und Herzfrequenz erfassen sowie Blutdruck- oder Blutzuckermessungen verwalten. „Indem Daten wie Schrittzahl oder Herzschlag, die erst einmal nur schön zu haben sind, in einen neuen Kontext gestellt werden, eröffnen sich für Ärzte differenziertere Behandlungsmöglichkeiten“, so die Medizinerin Meghan Conroy auf dem diesjährigen DLDsummer – dem Digital-Life-Design Kongress in München. Auf Anwendungen wie captureproof können Patienten Fotos ihrer Symptome hochladen oder das Programm mit Daten ihrer Tracking-Apps füttern. Dabei können Patienten zunächst für sich ihre Symptome dokumentieren und später entscheiden, welche Informationen sie mit Ärzten teilen möchten. Werden die „Wearables“ und „Fitness-Tracker“ unser Gesundheitssystem bald fundamental verändern?
Dagegen, dass die Menschen sich intensiver mit ihrer Gesundheit beschäftigen, ist soweit nichts einzuwenden. Ebenso wenig gegen geprüfte medizinische Apps. Womöglich könnte die winzige Patientenakte am Handgelenk künftig Tätigkeiten, die den Ärzten Zeit rauben, ersetzen und ihnen dabei helfen, bestimmte pathologische Entwicklungen zu verstehen und dem Patienten eine individuelle Therapie zu ermöglichen. Doch so positiv sich dieser Selbstvermessungs-Trend auch auf die Lebensweise der Menschen auswirkt, die Mini-Computer, die den Alltag auf Schritt und Tritt aufzeichnen, haben auch Schattenseiten: So macht es der übersättigte App-Markt schwer, nutzbringende Anwendungen aus der Angebotsflut herauszufiltern. Braucht man wirklich eine App, die anzeigt, ob man gute oder schlechte Laune hat? Vieles sagt einem auch schon der gesunde Menschenverstand, so etwa, dass Völlerei am Abend den Schlaf negativ beeinflusst. Eine Studie des Universitätsklinikums Freiburg im Auftrag der Techniker Krankenkasse hat gezeigt, dass viele Apps keinen richtigen Mehrwert für die Nutzer haben, nicht nachhaltig angelegt sind oder ein rein kommerzielles Interesse verfolgen.
Nicht hinter jeder App stehen zwangläufig Gesundheits- und Fitness-Experten. Gerade den Entwicklern vieler kostenfreier Apps fehlt das nötige Fachwissen. Den Nutzern wiederum fehlt das Know-How, um einschätzen zu können, ob die Informationen tatsächlich korrekt sind. Verlassen sich Selftracker leichtgläubig auf falsche Werte, kann es richtig gefährlich werden. So können Apps, mit denen man Bilder von Hautveränderungen machen kann, dem Nutzer mehr schaden als helfen; denn die Kriterien, nach denen die Aufnahmen bewertet werden, sind oft nicht bekannt. Wenn der rote Fleck am Ende doch Hautkrebs ist, hat der Patient bis zum Artbesuch wertvolle Zeit verloren. Weitere Gefahren von Selftraking sind die Überlastung der eigenen Körperkräfte und nicht zuletzt das unterschätzte Suchtpotenzial.
Ein weiteres Problem: Viele der sensiblen Gesundheitsdaten werden in Clouds oder auf den Servern der App-Betreiber gespeichert. Kritisch sehen Datenschützer dabei vor allem die Gesundheitsknotenpunkte – also Programme wie Microsoft Health, Google Fit oder das Apple Health Kit – die Daten verschiedener Tracking-Apps zusammentragen. Aber auch Kranken- und andere Versicherer haben Interesse an gesammelten Gesundheitsdaten. Gerade in Zeiten der NSA-Affäre drängen Fragen nach der Sicherheit der Daten, die über Gesundheits-Apps erfasst werden. Wer seine Schritte zählt, hilft auch dabei, sein Bewegungsprofil zu erstellen. Doch noch intimer als der Standort sind eben die Daten, die den Gesundheitszustand eines Menschen verraten. Vielen der digitalen Tools mangelt es aber an Transparenz hinsichtlich der Datenspeicherung und -weitergabe. Der Durchschnittsnutzer weiß oft nicht, von wem die Apps stammen und was sie tatsächlich sammeln. Gerade Dienstleister, die ihren Sitz außerhalb Europas haben, könnten in Sachen Datenschutz schwer greifbar sein. Deshalb ist es besonders wichtig, sich die Frage zu stellen, ob die Daten vor einem unerlaubten Zugriff geschützt sind: „Wenn der App eine Datenschutzerklärung fehlt, oder nicht klar ist, wie sich diese finanziert, ist man sicher gut beraten, nach einer Alternative zu schauen“, sagte Ursula Kramer, eine Mitautorin der Freiburger Studie.
Oliver Dziemba, Autor verschiedener Trend- und Zukunftsstudien, prognostiziert: „In den kommenden Jahren wird das Selftracking eine neue Dimension erreichen. [...] Im Jahr 2030 redet sicherlich keiner mehr vom automatisierten Puls-, Bewegungs- oder Blutdruck-Scanning, weil das bis dahin zur Alltagsausrüstung gehören wird. Zumal Krankenkassen das Selftracking bereits heute schon belohnen.“ So etwa die Barmer GEK, die ihre Mitglieder für regelmäßige Bewegung mit Bonuspunkten belohnt, die sie im hauseigenen Bonusprogramm einsetzen können. Doch die schwärmerische Sorglosigkeit im Umgang mit den eigenen Gesundheitsdaten bereitet Kritikern Sorgen: „Eine Krankenkasse, die alles über die Patienten weiß, neigt schnell zur Diskriminierung“, warnt Alexander Markowetz, Juniorprofessor für Informatik an der Universität Bonn. Auf längere Sicht könnte also der Selftracking-Trend den Solidargedanken in der Krankenversicherung gefährden und dazu führen, dass Versicherte gezwungen werden, entweder am Datenaustausch teilzunehmen oder schlechtere Tarife in Kauf zu nehmen. Ähnlich sieht es auch der ehemalige Gesundheitsminister: „Wir wollen gut informierte Patienten. Aber ich möchte keinen gläsernen Patienten“, sagte Daniel Bahr auf dem Podium des DLDsummer. Wie sich der Selbsterfassungswahn auf unser Gesundheitssystem auswirken wird, bleibt abzuwarten. Die Ärzte in Deutschland akzeptieren die Telediagnose noch nicht, so Bahr.