Die ganze Welt möchte zurück zu einer Normalität, wie wir sie vor der Pandemie kannten. Aber was, wenn wir SARS-CoV-2 nicht mehr loswerden? Darüber haben wir mit Experten verschiedener Disziplinen gesprochen.
Es liegt in der Natur des Menschen, dass ihm Veränderungen widerstreben. Und sollte sich etwas ändern müssen, dann doch bitte nur zum Besseren. Für einige Menschen war das eine realistische Perspektive – bis SARS-CoV-2 kam. Nicht, dass eine Virus-Pandemie nicht schon vor Jahren von Epidemiologen und anderen Wissenschaftlern vorhergesagt worden wäre. Denn das wurde sie. Aber der Wunsch nach Kontinuität war im Frühjahr des letzten Jahres erst einmal stärker als die Sorge.
Leider ließ sich das Virus dann aber nicht mehr aufhalten – Pandemie, Stillstand, Lockdown. Für die ganze Welt heißt es seitdem: durchhalten. Das Problem ist nur, dass keiner so richtig sagen kann, wie lange. Viele Experten sind der Meinung, dass die Normalität wie wir sie kennen, nie wiederkehren wird. Der amerikanische Soziologe Mike Davis ging in einem Interview sogar noch weiter: „Fast jede Epidemiologin würde wohl dem folgenden Satz zustimmen: COVID-19 ist nur der Anfang und das erste Kapitel einer neuen Ära von Pandemien.“
Diese Aussage klingt zunächst wie die Beschreibung eines dystopischen Romans. Wir haben uns trotzdem gefragt: Was würde mit unserer Gesellschaft passieren, wenn wir das Virus wirklich nie richtig loswürden? Wie kann sie aussehen, eine Zukunft mit SARS-CoV-2? Experten aus unterschiedlichsten Fachbereichen beantworteten uns diese Fragen.
Der Frankfurter Sozialpsychologe Rolf van Dick teilte mit uns seine Zukunftsvision: „Wir werden – leider – lernen müssen, mit dem Virus umzugehen, um uns und andere durch das Einhalten von etwas mehr Abstand und das TrageProf. Dr. Rolf van Dickn von Masken in bestimmten Situationen und Bereichen zu schützen. Seit fast einem Jahr haben wir vermieden, uns bei der Begrüßung zu umarmen oder ausgiebig die Hände zu schütteln. Das ist sinnvoll und hilft, Infektionen zu vermeiden und wird wohl, außerhalb unseres engen Familien- und Freundeskreises, zur Gewohnheit werden und irgendwann auch nicht mehr als fremd oder gar Belastung empfunden werden.“
Der Sozialpsychologe weiß aber auch: „Menschen brauchen Nähe und Gemeinschaft und werden diese, sobald es möglich ist, auch wieder suchen und eingehen. Wahrscheinlich werden wir sozialen Kontakten aber zumindest für einige Zeit nach Überstehen der aktuellen Pandemie mehr Aufmerksamkeit schenken, sie mehr wertschätzen und sie mehr genießen.“
Auch Ute Frevert, Historikerin und geschäftsführende Direktorin des Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, sieht in der aktuellen Situation eine Chance für die Gesellschaft, zu wachsen und etwas zu ändern.„Wir sollten uns möglichst rasch von der liebgewordenen Floskel ‚Rückkehr zur Normalität’ verabschieden. Denn weder wird eine solche Rückkehr aller Voraussicht nach möglich sein, noch ist sie in allen Teilen wünschbar.“Prof. Dr. Dr. Ute FrevertEs gäbe eine Menge Dinge, die wir aus der Corona-Gegenwart in die Zukunft mitnehmen könnten, um Probleme, die schon vor Corona relevant waren, anzugehen. „Eine Reduzierung der individuellen Mobilität, nicht zuletzt der weitgehende Verzicht auf Flugreisen, trägt zu einer Verringerung der klimaschädigenden CO2-Emissionen bei.“Die meisten Kongresse und Konferenzen ließen sich per Video verfolgen, selbst für den informellen Austausch an der Bar gäbe es mittlerweile digitale funktionale Äquivalente. Auch das mobile Arbeiten, das sich viele Menschen schon vor Corona wünschten, sei zukunftsträchtig. „Die neue Wertschätzung für Wissenschaft und Wissenschaftler zählt ebenfalls dazu.“
Auch die Historikerin sieht einige der aktuellen Maßnahmen als bleibende Begleiter im Alltag der Zukunft. „Antigentests werden alltäglich sein, ebenso wie Masken und eine gewisse körperliche Distanznahme. Und vielleicht schauen wir, die traditionell so disziplinierten und pflichtbewussten Deutschen, uns tatsächliche Disziplin und Verantwortung mal bei Menschen in asiatischen Ländern ab.“
Sollten die Menschen sich das Händeschütteln abgewöhnen, wollen wir von Prof. Friedemann Weber wissen. „Nein, bloß nicht“ , sagt der Virologe. „Wir müssen das Virus so weit zurückdrängen, dass sich diese Frage nicht mehr stellt. Wenn wir uns genug anstrengen, werden wir SARS-CoV-2 so weit eingedämmt bekommen, dass ein annähernd normales Leben wieder möglich ist. Impfungen und Virus-Schnelltests sollten aber zur Routine werden, und Maskentragen bei größeren Menschenansammlungen oder Orten mit viel Verkehr wie z. B. Flughäfen oder Bahnhöfen eine Selbstverständlichkeit. Dann wird Corona kein ständiger Begleiter sein, der unser Leben einschränkt.“
Ähnlich sieht es die Infektiologin Dr. Nazifa Qurishi. „Das Coronavirus wird unser Leben wahrscheinlich weiterhin als eine infektiöse Erkrankung, wie das Influenzavirus auch, begleiten. Irgendwann, vielleicht in einem Jahr, haben wir so eine Art Herdenimmunität erreicht – sei es, weil viele Menschen sich impfen ließen oder sei es, weil einige die Erkrankung durchgemacht haben und dadurch eine Immunität erreicht haben.“ Dadurch sinke automatisch die Zahl der Neuinfektionen.
„Ich kann mir auch vorstellen, dass wenn die Epidemie signifikant unter Kontrolle ist, dennoch Einzelausbrüche vorkommen können, siehe die aktuellen Zahlen aus China. Je nach dem, wie lange die Impfung einen wirkungsvollen Schutz bietet, wird sie, wie die Grippeimpfung, jährlich älteren oder chronisch kranken Menschen sowie medizinischem Personal angeboten werden.“ An einen bleibenden Alltag mit dem Virus glaubt die Ärztin nicht. „Ich glaube nicht, dass wir unsere Zukunft nur noch mit Masken, Homeoffice, E-Schooling und Kontaktbeschränkungen gestalten müssen. Ich glaube sehr fest an eine coronaarme – gar coronafreie – Zukunft.“
Dass eine gewisse Form der Rückkehr zur Normalität in einigen Bereichen für unsere Gesellschaft wichtig ist, glaubt Soziologe und Netzwerkforscher Prof. Christian Stegbauer. „Mit dem Virus langfristig leben zu müssen, ist keine schöne Vorstellung für uns – besonders nicht aus Sicht eines Netzwerkforschers“, erklärt er. „Beziehungen, die Orientierung, emotionale Unterstützung und Vertrauen geben, sind für uns Menschen unbedingt notwendig.“
Falls es auf Dauer Kontaktbeschränkungen geben müsse, sollten diejenigen weiter eingeschränkt werden, die am ehesten für eine Verbreitung des Virus verantwortlich seien. „Das beträfe nicht so sehr die engen und wichtigsten Beziehungen, wie Familie und enge Freunde – schwache Kontakte hingegen, wie solche, die man in Clubs, auf Volksfesten oder auf Reisen hat, müssten dann eingeschränkt werden“, so Stegbauer.
Er könne sich vorstellen, dass die Menschen gegenüber Fremden misstrauischer würden. Gut wäre die Einschränkung von solchen „schwachen Beziehungen“ also nicht, denn das würde unsere Weltoffenheit beeinträchtigen. Der Soziologe betont: „Gerade Kontakte zu Menschen, die man nicht oft trifft, stehen dafür, dass sie uns auf neue Ideen bringen und wir letztlich als Gesellschaft innovativ bleiben können.“
Stichwort innovativ: Der Epidemiologe Prof. Hajo Zeeb sieht unsere Aufgabe als Gesellschaft darin, uns entsprechend den Gegebenheiten besser zu organisieren. Prof. Dr. Hajo Zeeb„Solange wir mit einer Impfung sowie besseren Therapien in der Lage sind, das Problem klein und beherrschbar zu halten, bin ich nicht übermäßig besorgt – noch sind wir aber nicht da.“ Masken würden Alltagsgegenstände bleiben, auch wenn sie, insbesondere mit Distanz gemeinsam, wirksam seien. Die Distanz werde aber, so der Epidemiologe „in der Form nicht durchgängig aufrechterhaltbar sein. Dafür sind eben die Impfungen essentiell. Andererseits wird an Orten, die bisher auf die Optimierung von Menschenflüssen ausgerichtet waren (z. B. U-Bahnen wie die London Tube oder manche Flughäfen) ein Umdenken stattfinden müssen.“
Der Epidemiologe glaubt außerdem: „Natürlich muss und wird der strenge Lockdown enden. Bei niedrigeren Fallzahlen allemal.“ Aber die erwähnte Optimierung müsse kritisch durchdacht werden. Ein Gesamtkonzept der Pandemic Preparedness umfasse neben guten Standards bei Surveillance und Informationsflüssen natürlich die Idee resilienter Infrastruktur und Dienste. „Was z. B. die WHO mit ihrem „Whole of Society“-Ansatz beschreibt, geht in die Richtung, in die jetzt noch intensiver gedacht und geplant werden muss. Wir alle haben Corona erlebt und können zu einem besseren, der neuen Situation angepassten Leben beitragen.“ Die abrupte Lernkurve – wie sich unser Leben verändern kann und was das bedeutet – müssten wir auch für die anderen großen Herausforderungen, den Klimawandel vorneweg, nutzen, so Zeeb.
Den zwischenmenschlichen Aspekt sieht er optimistisch. Umarmungen und Händeschütteln werde es schon wieder geben. „Vielleicht bedachter und ausgewählter – als Kulturpraktiken aber auch schon sehr lange etabliert und vermutlich durch eine Pandemie nicht zu beenden. Sonst hätte es die nach der spanischen Grippe schon nicht mehr geben dürfen.“
Der Zukunftsforscher Matthias Horx behauptet im Zukunftsreport 2021: Das „neue Normal“ werde anders aussehen als das alte. „Vielleicht hat die Corona-Krise nur einen einzigen Sinn: der Menschheit unmissverständlich klarzumachen, dass es auch ohne eine Pandemie nicht so weitergegangen wäre wie bisher.“ Er ist der Meinung, auch ein Impfstoff werde den alten Zustand nicht wiederherstellen. COVID-19 hätte uns auf drastische Weise das „große Zuviel“ gezeigt. „Wir stecken in einer gigantischen Steigerungskrise. Und zwar schon lange. Die Pandemie ist ein Weckruf.“ Sie solle uns als Gesellschaft vielleicht zeigen, dass „das alte Normal schon ein Unnormal war.“
Philosoph Henning Hahn von der Freien Universität Berlin erklärt in einem Interview, die eigentliche Frage sei nicht, welchen Preis die Erhaltung der alten Normalität habe, „sondern wie wir eine neue Normalität mitgestalten können. Sollen wir sie nationalistischen und kompetitiven Kräften überlassen, oder gelingt es uns, in der Krise solidarische Praktiken der Achtsamkeit und Genügsamkeit zu pflegen? Dies ist der politische Konflikt, der sich derzeit anbahnt – und für den die Krise ein aufregendes Möglichkeitsfenster öffnet."
„Wir sollten bereit sein, etwas an unserem eigenen Verhalten zu ändern, sodass wir aus dieser verdammten Coronapandemie auch etwas Positives mitnehmen können“, wünscht sich der Pharmazeut Thomas Meier (Name von der Redaktion geändert). Er erzählt: „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich in der Apotheke jemals so wenig Arzneimittel gegen Erkältung verkauft habe, wie in diesem Winter. Das haben wir mit großer Sicherheit der Maskenpflicht und dem Lockdown zu verdanken, die auch gegen normale Erkältungsviren Erfolg gezeigt haben. Warum versuchen wir dann nicht auch in Zukunft, möglichst keine Viren zu verbreiten?“
Der Apotheker schlägt vor: „Wir könnten auch einfach mal zu Hause bleiben und uns isolieren, wenn wir erkältet sind. Wir könnten ebenso leicht eine Maske tragen, wenn wir in so einer Situation doch aus einem triftigen Grund das Haus verlassen müssen.“ Auch er sieht die Pandemie als Chance für unsere Gesellschaft. „Vielleicht lernen wir ja mal dazu. Ich würde es mir wünschen.“
Bildquelle: Benjamin Davies, unsplash