Mir ist neulich ein Flyer zum Thema Corona-Impfung in die Hände gefallen – auf den ersten Blick neutral und sachlich formuliert. Auf den zweiten Blick manipulativ und gefährlich. Ihr ahnt es: Ich kann das nicht so stehen lassen.
Eigentlich wollte ich diesem Blatt keine Beachtung schenken. Denn es ist die Aufregung nicht wert. Es handelt sich um einen Flyer, der auf den ersten Blick neutral und sachlich über die mRNA-Corona-Impfung aufklären soll. Aber nur auf den ersten Blick sind die darin enthaltenen Argumente sachlich. Schaut man genauer hin, sieht man Phrasendrescherei, emotionale Schalter und Whataboutism. Manipulation par excellence. Das Faltblatt mit dem schönen Namen „Retter Impfung?“ ist ein Musterbeispiel an angstschürenden und verdrehten Argumenten gegen die mRNA-Impfung gegen COVID-19.
Leider fühle ich mich doch irgendwie verpflichtet, die darin enthaltenen Scheinargumente und „Fakten“ zu widerlegen und gegen die Ängste anzukämpfen, die durch den Flyer geschürt werden. Ich gehe den Flyer nun einmal Schritt für Schritt und Seite für Seite durch. Los geht's.
Eine 21-jährige Schwedin entwickelte nach der Schweinegrippeimpfung, die in den Jahren 2009/2010 verimpft wurde, eine Narkolepsie. Keine Frage, das ist tragisch. Dass es nach dieser Impfung vermehrt Fälle von Narkolepsie gab, ist jedoch kein Geheimnis. Nebenwirkungen werden im Rahmen von klinischen Studien und auch nach regulären Impfungen dokumentiert. Treten unbekannte Impfreaktionen auf, wird ihnen nachgegangen. Jeder Mensch kann bei Symptomen, die eventuell auf eine Impfung zurückzuführen sind, diese melden, und zwar hier.
Auffällig an der Art und Weise, wie in dem Flyer über die Nebenwirkung berichtet wird, ist die Tatsache, dass ein einzelnes Schicksal, so traurig es auch ist, verbreitet wird, um Ängste zu schüren. Keinesfalls möchte ich mit der Aussage Impfzwischenfälle relativieren, sie sind für die Betroffenen meist schwer zu ertragen. Mich stört aber die bewusste Darstellung der Schicksale, um Impfungen an sich zu verunglimpfen.
Deutschland erlebt momentan bis zu tausend coronabedingte Todesfälle pro Tag. Schicksale, die alle einen Namen haben. Nur sind es zu viele, um jeden einzelnen zu nennen, der eine Lücke in seiner Familie hinterlässt.
Folgendes ist richtig: Ja, die Impfstoffe wurden innerhalb weniger Monate entwickelt. Gottseidank. Es stimmt auch, dass es ein neues Verfahren darstellt. Allerdings arbeitet die Forschung schon seit über zehn Jahren an mRNA-Impfstoffen und -Medikamenten. Dass die Impfung so schnell zugelassen werden konnte, liegt zum einen am Zulassungsverfahren, das parallel zur Studie durchgeführt wurde (Rolling Review), zum anderen an der großen Masse an Probanden, die durch die Pandemie zustande kamen. Fernen waren aus vorangegangener Forschung an SARS-CoV1 einige Targets bekannt.
Insgesamt konnten alleine in der Zulassungsstudie mehr als 42.000 Probanden in kürzester Zeit rekrutiert werden. Darüberhinaus wurden inzwischen mehrere Millionen Menschen geimpft.
„Virusgen“ wird dabei schön fett gedruckt, damit es bedrohlich aussieht. Richtig ist, dass Erbsubstanz des Coronavirus in der mRNA-Impfung enthalten ist. Aber: Sie enthält nur die Gene, die für das Spike-Protein codieren, das an der Oberfläche des Virus sitzt. Ohne die übrige Virus-RNA ist dieses Protein nicht krankmachend, weil es sich nicht vervielfältigen kann. Infiziert man sich hingegen mit dem Virus, bekommt man die Wirkung des gesamten Virusgenoms zu spüren und wird krank.
Auch diese Behauptung, dass sich diese „Virusgene“ im gesamten Körper verteilten, auch dorthin, wo das Virus sonst keinen Schaden anrichten würden, muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Wie soll der Bruchteil eines Virusgenoms irgendwo Schaden anrichten, wenn nicht einmal das Virus dort Schaden bewirkt?
Damit war die Schweinegrippe gemeint und dieser Schreibstil hat Boulevardzeitungsniveau. Fehlt nur noch eine Clickbaiting-Überschrift: „Du wirst nicht glauben, was die Schweinegrippe tatsächlich war!!!“.
There is no glory in prevention: Man kann im Vorfeld nicht wissen, was passiert. Und wenn präventive Maßnahmen wirken und die Katastrophe ausbleibt, sind die Buh-Rufe groß. Hätte man ja alles nicht gebraucht, heißt es dann.
Dieses Scheinargument wird gerne herangezogen, um Ängste dort zu schüren, wo sie insbesondere Frauen am empfindlichsten treffen: bei der Sorge um den (potenziellen) Nachwuchs. Diese Behauptung haben viele Religionen bereits für sich genutzt, meist verbunden mit einem starken Anstiegen der Krankheit, die durch die Impfung vermeidbar gewesen wäre (z. B. Tetanus, Poliomyelitis)
Die Aminosäuresequenzen des am Aufbau der Plazenta beteiligten Proteins Syncytin-1 und die des Spike-Proteins sind in einer zufälligen, unregelmäßig verteilten Abfolge identisch. So wie in einem Buch auf mehreren Seiten zufällig auch manche Buchstaben gleich sind.
Es gibt Studien, welche die Auswirkungen einer Corona-Infektion in der Schwangerschaft untersuchten und es wurden bisher keine teratogenen Effekte festgestellt. Bei mehreren Millionen mit SARS-CoV2 infizierten Frauen weltweit wurden bisher keine Auswirkungen auf Fruchtbarkeit und Gesundheit des Nachwuchses gefunden.
An dieser Stelle werden Äpfel mit Birnen verglichen: Die Wahrscheinlichkeit, zu sterben wird mit der Wahrscheinlichkeit für auftretende Schäden verglichen. Für eine jüngere Population ist es in der Tat unwahrscheinlich, an COVID-19 zu sterben. Für die alten, vorerkrankten Menschen ist die Krankheit gefährlich, aber die jüngeren, asymptomatischen Menschen verteilen sie, ohne es zu wissen.
COVID-19 kann schwere Langzeitschäden mit sich bringen, eine Impfung hat in der Regel keine Langzeitfolgen. Dass mehrere Monate nach einer Impfung noch Impfreaktionen erfasst werden, liegt an der Tatsache, dass seltene Nebenwirkungen erst in einer großen Population entdeckt oder erst in der Rückschau auf eine Impfung zurückgeführt werden können. Blöderweise hat man in einer Pandemie keine Zeit für eine zehnjährige Beobachtungsphase.
Ändern wir den schönen Satz doch einmal ein wenig: „Es ist bekannt, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Corona-Impfung zu sterben, gering ist. Und es ist bekannt, welche Langzeitschäden eine Covid-19-Infektion mit sich bringt.“
Wie auch bei dem Scheinargument Unfruchtbarkeit finden sich hier emotionale Schalter, die von den Verfassern des Flyers gedrückt werden. Niemand möchte, dass es seinen Kindern und Kindeskindern schlecht geht. Hier wird bewusst Angst gesät.
Ja, wir erinnern uns. Es war eine Katastrophe und die Betroffenen leiden unter den schlimmen Folgen noch heute. Nach dem Contergan-Skandal haben sich klinische Studien etabliert, damit so etwas nicht mehr passiert. Dennoch wird hier wieder bewusst mit der Angst gespielt. Man kann einfach nicht vergleichen, wie damals Medikamente auf den Markt gebracht wurden, und wie es heutzutage geschieht. Der Contergan-Skandal hat nichts mit der Impfung gemein (Whataboutism).
Meistens sagen oder schreiben das genau diejenigen Leute, die keinen Einblick in die Geschehnisse in Krankenhäusern haben. Ausgeprägter Personalmangel, krankheitsbedingte Ausfälle und schwerkranke COVID-Patienten, die teilweise über mehrere Wochen beatmet werden müssen und sehr pflegeintensiv sind, überlasten Intensivstationen massiv.
Bemerkt jemand den Widerspruch? Sogenannte Experten erklären, man möge ja nicht auf Experten hören? Prinzipiell ist es gut, wenn Gegenmeinungen offen vertreten werden, denn nur so kann man sie diskutieren. Wenn diese Meinungen allerdings nicht auf wissenschaftlichen Tatsachen basieren, sollte man den betreffenden Personen keinen Glauben mehr schenken. Wir sind in dieser aktuellen Situation drauf angewiesen, unser Gehör den Wissenschaftlern zu schenken, die sich mit der Materie auskennen. „Du hast deine Fakten, ich hab meine Meinung“ hat ausgedient.
Korrekt. Das soll auch so bleiben.
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