Während ich meine Frau durch ihre schwere Krebserkrankung begleitet habe, sind mir als Angehöriger einige Ärzte begegnet. Drei Typen habe ich dabei immer wieder getroffen.
Ich schicke voraus: Ich habe großen Respekt vor Ärzten. In dem südbadischen Provinznest, in dem ich in den Sechzigern groß geworden bin, war der Arzt (Ärztinnen gab es nur im seltenen Ausnahmefall) eine Respektsperson. Er galt etwas im Ort, sein Ansehen stand gleich hinter dem des Bürgermeisters und knapp vor dem des Mittelstürmers unseres Fußballvereins. Vor allem aber weit vor dem des Apothekers und dem des ebenfalls weißbekittelten Drogisten, den es damals noch gab, die Älteren werden sich erinnern.
Aus dieser Zeit rührt meine Körperhaltung, wenn ich Ärzten begegne: Der Kopf sinkt – und wenn es nur wenige Millimeter sind – in den Rumpf und die Schultern ziehen hoch. Worte aus dem Munde eines Arztes sind ex cathedra gesprochen und das ist auch gut so. Punkt.
Erst später, im Berlin der Achtziger, erlebte ich, dass Ärzte auch ganz irdische Menschen sind. Wenn mein WG-Mitbewohner – heute ein international angesehener Professor an einer Uniklinik im Süddeutschen – sich aus weinseligen Diskussionsrunden „schon um drei“ mit der Bemerkung zurückzog, er müsse jetzt noch eine Mütze Schlaf nehmen, weil sein Dienst gleich um sechs begönne, dann war die Anerkennung doch groß, dass er immerhin bis dahin mitgemacht hatte.
Ich muss dies vorausschicken, denn später als Student und dann als Selbstständiger waren die Kontakte mit der Ärzteschaft eher wenige. Einmal wegen einer heute leidvoll vermissten soliden Grundgesundheit, dann aber auch, weil man als Selbstständiger nur dann zum Arzt geht, wenn der Kopp nicht mehr unter dem Arm ist, sondern schon herunterkullert.
Will sagen: Allein der Gedanke an volle Wartezimmer treibt so manche Erkältung aus den Gliedern, das Wort Krankschreibung kannte man nur aus dem Lexikon.
Nun kam die Zeit, in der ich recht viel mit Ärztinnen und Ärzten zu tun hatte, von jetzt auf gleich sozusagen, als nämlich meine Frau schwer an einem Lymphom erkrankte und sich der Heilungsprozess doch länger hinzog, als es idealerweise hätte sein können. Die Namen von Ärztinnen und Ärzten spielten im Leben meiner Frau in nunmehr fünf Jahren seit dem Ausbruch der Krankheit eine Riesenrolle, sie verdankt dem Tun jedes und jeder Einzelnen, aber auch dem aller gemeinsam ihr Leben.
Natürlich ergibt es sich, dass man in dieser Zeit einmal selbst auch sehr viele Ärztinnen und Ärzte kennenlernt und diese dann aber auch aus einer ganz speziellen Perspektive sieht, nämlich der des Angehörigen. Nun ist mir hinreichend bewusst, dass Ärztinnen und Ärzte auf so unglaublich Vieles achten und sie so unglaublich Vieles im Kopf haben müssen, dass die Befindlichkeit eines Angehörigen eher unter ferner liefen auftaucht. Klar.
Trotzdem habe ich für mich eine Typologie der Ärzteschaft erstellt. Drei Typen habe ich dabei kennengelernt:
Gleich zu Anfang der unangenehmste Typ, der allein auf „seinen“ Patienten fokussiert ist, für den ein Angehöriger ungefähr den Stellenwert einer lästigen Fliege an der Wand hat.
Dieser Typus erschien mir als Ärztin, bei der Bundeswehr sei sie Feldwebel gewesen. Sicher meinte sie es gut, aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Dieser Typ schaut durch Dich durch (bzw. an Dir vorbei), quält sich zu einer müden Begrüßung, dabei auf den Bildschirm oder ein Blatt Papier schauend, und beim Abschied sieht diese Spezies schon gar nicht mehr hin. Patient first eben.
Ist ja im Prinzip auch in Ordnung, unterschätzt aber völlig, welche Rolle Angehörige im Laufe einer schwerwiegenden Krankheit übernehmen können. Wenn die Patronen nur so um die Ohren fliegen, dann sackt man als Patient bisweilen völlig in sich zusammen, der Angehörige – einer der wenigen Vorteile des Abstands – nimmt die Informationen nüchterner auf und kann sie auf dem Rückweg oder zu Hause vielleicht sogar erklären. Und dann auch besser trösten. Eine Vermittlerrolle, die unbeachtet verpufft. Etwa 20 Prozent aller Arztbegegnungen verlaufen so.
Typ zwei nimmt Dich immerhin wahr, schaut mal zum Patienten, auch mal zum Angehörigen und respektiert Dich. Auch dieser Typ hat natürlich allein den Fall im Auge, aber immerhin läuft es menschlich angenehm. Man ist mit Wenigem so zufrieden. Geschätzter prozentualer Anteil aller Arztbegegnungen: etwa 70 Prozent.
Typ Nummer drei
Und dann gibt es Typ drei, den Typ, der aus voller Überzeugung weiß, welch wichtige Rolle Angehörige übernehmen können. Wer mitgerechnet hat: Ihn gibt es zu etwa 10 Prozent. Von Zehnen also einer. Er bezieht Dich mit ins Gespräch ein, fragt auch mal, wie Du dieses oder jenes siehst, bekommt so mit, dass es der Patientin/dem Patienten vielleicht doch nicht so gut geht, wie sie/er es immer darstellt und – jetzt kommt der Hauptgewinn – er kennt und nennt sogar Deinen Namen.
Wenn ich Arzt wäre (was ich nicht bin), würde ich mich immer für diese Linie entscheiden. Es ist einfach informationsökonomischer, man erfährt mehr, man spart im wahrsten Sinne des Wortes Satzschleifen, weil der Angehörige schlicht und einfach Teil des Teams Gesundwerden ist. Voraussetzung ist natürlich, dass der/die Patient/in das auch will. Klaro.
Ich kann mich an einen Arzt erinnern, mit dem meine Frau nicht hinten und nicht vorne klarkam, dessen nüchterne, rein wissenschaftliche, offene Art ihr enorme seelische Probleme bereitete und um dessen Ablösung von ihrem Fall sie den Chefarzt bitten wollte. Ich dagegen mochte ihn, sehr sogar. Er bezog mich öfter ein und fragte nach. Also bei mir.
Ich hatte mich mit seiner Vita, mit seiner beeindruckenden Forschungsarbeit befasst, hatte ihn mehrfach auf dem Krankenhausflur getroffen, mit ihm gesprochen und konnte meiner Frau versichern, dass er ein guter Mensch (auch noch Vater von vier Kindern, irgendwie zählt das bei mir), ein unglaublich empathischer und zugewandter Arzt war, dem sie sich doch bitte, bitte wieder nähern möge.
Er selbst konnte sich die Abneigung meiner Frau nicht erklären, er hatte keinen Schlüssel in der Hand, sie, also meine Frau, zu öffnen. Meine Frau wurde gottlob offener, auch der Chefarzt hatte ihr das ans Herz gelegt. Er, der betreffende Arzt, hatte sie in einer sehr kritischen Situation, als die Lungen nicht mehr wollten, im Diesseits gehalten, ich jedenfalls (und meine Frau auch) sind ihm so unglaublich dankbar.
Eigentlich – aber diesem Typus bin ich nie begegnet – soll es ja auch noch Typ Nummer vier geben. Damit sind die Ärztinnen und Ärzte gemeint, die nur, und zwar ausschließlich, mit dem Angehörigen sprechen und damit am Patienten nicht nur sprichwörtlich vorbeireden.
Das ist dann so ähnlich wie in der KfZ-Werkstatt, wenn die Kundin überhaupt nicht wahrgenommen wird, weil ja der Mann mitgeht und das, obwohl es ihr Auto ist. Oder im Modegeschäft, wenn es eigentlich um den Mann geht, die Kommunikation aber ausschließlich über die Frau abläuft. Aber wie gesagt: nur gehört, nie erlebt.
Von der Werkstatt zurück ins Behandlungszimmer: Dass so eine Gesprächsführung den Genesungsprozess des/r Patienten/in nicht gerade fördert, sollte klar sein, vom Dämpfer fürs Selbstwertgefühl mal ganz zu schweigen.
Als ich selbst – ich wies darauf hin, dass irgendwann die Gesundheit dann doch mal zusammenklappt – in der Klinik lag, habe ich die Kommunikation mit der Ärzteschaft (zumindest bei den wichtigen Entscheidungen, die mich maßlos überforderten) meinem Angehörigem, nämlich meinem ältesten Sohn, einem Arzt, in die Hand gegeben. Ich war viel zu durcheinander, um all das zu verstehen und einordnen zu können, was bei mir so ablief.
Es ging um eine Infektion, die mich fast den Unterarm gekostet hätte. Kaum war die weiße Macht raus aus dem Krankenzimmer, konnte er mir alles in Ruhe erklären, ich konnte notfalls auch dreimal nachfragen, ich habe das sehr genossen.
Mir sehr angenehm in Erinnerung geblieben ist eine Ärztin, der ich mein Leid über die Schmerzen auf meinen Oberschenkeln nach abgezogener Splash-Haut klagen wollte. Mit jeder Millimeterbewegung tat es abgrundtief weh, allein die Erinnerung lässt die betroffenen Stellen wieder glühen.
Diese Ärztin nahm sich einen Stuhl, rückte an mein Bett und erzählte, dass sie diese Schmerzen sehr gut nachvollziehen könne, weil auch sie sich nach einem Unfall einer Hauttransplantation unterziehen musste. Sie wisse, wie weh das tut. Was soll ich sagen? Ab diesem Moment waren die Schmerzen aushaltbar, ich fühlte mich ernstgenommen, es war ein so wunderbares Gefühl. Dauer des Gesprächs? Vielleicht 5 Minuten, es ging um die Geste, nicht um die Zeit.
Zurück zur Rolle als Angehöriger: Von Ärzten habe ich mir sagen lassen, dass es auch hier unterschiedliche Typen geben soll. Ich wäre neugierig, zu lesen, wie diese Typologie aussähe … wenn ihr da Erfahrungen gemacht habt, schreibt doch einen Kommentar dazu.
Bildquelle: National Cancer Institute, Unsplash