MEINUNG | Jetzt, da es Impfstoffe gegen das Coronavirus gibt, scheinen wir so kurz vorm Ziel zu sein. Und doch kocht in mir die Wut hoch – über einige meiner ärztlichen Kollegen.
Ich hatte bislang zwei Mal im Leben Todesangst. Beim ersten Mal hatte ich mich auf einer Fahrradtour durch die USA mit zu wenig Wasser und Essen in den Rocky Mountains verfahren. Nachdem ich über einen Tag lang keinen Menschen gesehen hatte, fuhr ich immer weiter, bis ich in der Nacht in der Ferne ein Paar Scheinwerfer auf meinen Schotterweg abbiegen sah, die Straße wurde wieder fester. Ich baute sofort mein Zelt auf und fühlte mich gerettet.
Das zweite Mal war im vergangenen Frühjahr. Nach Wochen der Anspannung war es so weit, Anfang März saß der erste hochfiebernde Patient in unserer Sprechstunde und wurde ohne Schutzmaßnahmen behandelt. Die Bestätigung kam nach dem Wochenende: SARS-COV-2-positiv. Der Schock saß trotz – oder vielleicht wegen – der eigentlich erwartbaren Ausbreitung in Deutschland tief. Die folgenden Wochen habe ich immer noch nicht richtig verarbeitet. Wir setzten uns zusammen und bauten einen möglichst großen Schutz für uns, unsere Familien und unsere Patienten auf und verfeinerten ihn in den kommenden Monaten immer weiter.
Im Teammeeting gab ich bekannt: Das ist jetzt unser Job. Wir sind nicht nur Ärzte in guten Zeiten für die Patienten da. Nein, jetzt ist die Zeit unserer Bewährungsprobe, jetzt zeigt sich, ob wir den richtigen Job gewählt haben, oder ob das nur Lippenbekenntnisse waren. Das vielbeschworene Mantra „Selbstschutz zuerst!“ wurde außer Kraft gesetzt, die Famulanten nach Hause geschickt.
Ja, das ist viel Pathos. Aber jeder, der das damals miterlebt hat, weiß, glaube ich, wovon ich rede. Ja, man kam sich vor wie ein Held. Unter gefühlt hoher Gefahr für Leib und Leben sind wir durch menschenleere Straßen zur Arbeit gegangen. Und abends wurde geklatscht, meine Kinder waren stolz und ich habe geheult.
Und ein Großteil des Teams zog mit. Das kann ich gar nicht hoch genug schätzen. Wir arbeiteten unter höchstem psychischen Druck, waren da für Sorgen und Krankheiten der Patienten. Dafür werde ich den Kollegen und Mitarbeitern immer dankbar sein. Hier zeigte sich der Charakter von jedem Einzelnen. Und wir hatten Glück. Kein Teammitarbeiter hat sich bisher bei der Arbeit infiziert.
Wir haben in den letzten Monaten viel vom Virus gelernt. Wir können uns (relativ) gut schützen. Wir haben eine gute Überlebenschance, sollten wir den Infekt bekommen und müssten schon viel Pech haben, wenn wir sterben. Wir führten tausende Abstriche durch und behandelten hunderte COVID-Patienten. Das wurde zur Routine und bereitete uns keine schlaflosen Nächte mehr. Die Angst ließ nach.
Aber jetzt ist sie wieder da. Letzte Woche saß ein 37-jähriger Patient mit leichten Erkältungserscheinungen im Wartezimmer. COVID-Abstrich folgte: positiv. Einige Tage später: Akute Verschlechterung und jetzt Beatmung und ECMO in der Uniklink. Die Ehefrau mit zwei Kleinkindern, selber fiebernd, in Quarantäne zuhause. Soweit kein Einzelfall, das ist ein Verlauf, wie es ihn nun schon mal leider gibt. Die Nachricht folgte jetzt vom Labor, es war die Südafrika-Variante. Ein Patient, der sicher nicht in Südafrika war.
Dass dieser Fall so schwer verläuft, ist sicher nur Zufall. Aber was so schockiert: Das Virus wird wieder unkontrollierbarer. Unberechenbarer. Reichen unsere Schutzmaßnahmen bei ansteckenderen Varianten aus? Verlaufen die durch die neuen Varianten ausgelösten Infektionen vielleicht doch aggressiver?
Und eigentlich scheinen wir doch so kurz vor dem Ziel zu sein. Die Impfungen laufen an, trotz sicher verbesserbarer Organisationsstrukturen. Es ist auch okay, dass man sich nach der Priorisierung richtet. Die Alten zuerst, Pflegepersonal der Heime meinetwegen auch. Intensivstation, ok. Rettungsdienst, ok. Damit kann ich leben.
Aber: Was seit Wochen bei der Verteilung der Restdosen abgeht, ist ein Skandal. Nicht nur über Twitter, auch über diverse Bekannte hört man, dass Mitarbeiter vollkommen ohne Kontakt zu COVID-Patienten ebenso geimpft worden sind. Freunde und Bekannte werden schnell in Heime zitiert, wo noch, oh Wunder, plötzlich freie Impfdosen auftauchen. In Köln wurde laut Lokalpresse die Leitstelle der Feuerwehr geimpft (Priorität 2 bis 3). Die Chefarztsekretärinnen und komplette Verwaltungen der Krankenhäuser sind ein anderer Klassiker der Sozialen Medien und leider keine Fake News.
Und das ist nicht okay. Das ist ganz und gar nicht okay. Nicht nur für die Patienten der Priorität 1 ist das ganz schlimm. Das empfinde ich jetzt auch als persönlichen Angriff auf meine eigene Gesundheit und – noch schlimmer – auf die Gesundheit des Vaters meiner Kinder. Und auf meine Kollegen und Mitarbeiter, die bis hier mitgegangen sind und sich auch jetzt täglich klaglos in Gefahr begeben.
Wie können die Kollegen ruhig schlafen, die so etwas verantworten? Das ist hochgradig unethisch. Für jede Dosis, die außer der Reihe an den Falschen verimpft wird, kann irgendwo anders ein anderer Mensch sterben, der eigentlich an der Reihe war. Ja, und auch wir in der Patientenversorgung aus der Gruppe 2 können uns in der Zwischenzeit anstecken.
Das geht so nicht weiter. Ich unterstelle einmal, dass kein Vorsatz bei den Bestellungen dahintersteckt. Aber was soll daran so schwer sein, für die plötzlich erscheinenden Extra-Impfdosen Menschen der Priorität 1 in der Hinterhand zu haben. Bei dem Organisationsvorlauf muss das möglich sein. An die Personen, die bisher dafür verantwortlich waren: Das war leider gar nichts.
Die Wut kocht hoch, in der ganzen Gesellschaft. Und wir haben jetzt unseren Anteil daran, herzlichen Glückwunsch. Einige sorgen für ihre Sicherheit auf Kosten von noch mehr Unruhe und Mistrauen.
Wir müssen uns an die Priorisierung und an die geltenden Vorgaben halten. Und zwar uneingeschränkt. Und transparent! Wer verteilt, wer bestellt, wer impft, was passiert mit jeder einzelnen Impfung?
Das muss einfach besser gehen.
Über den Autor:Dr. Tim Knoop ist Facharzt für Innere Medizin und hausärztliche Versorgung. Er leitet eine hausärztliche internistische Praxis in Köln mit 24 Angestellten, davon 9 angestellte Ärzte.
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