MEINUNG | Manchmal wundert man sich, wer sich alles im Stande fühlt, Berichte über den Status quo medizinischer Therapien zu verfassen. Was mich als Neurologe da gerade aufregt: der Demenzreport von Gerd Glaeske.
Ein positiver Effekt der Corona-Pandemie ist, dass sie in der Politik und bei uns allen – zumindest vorübergehend – ein empiristisches Weltverständnis befördert hat. Selbst eingefleischte Ideologen müssen sich den nüchternen Fakten unter Schmerzen beugen, worüber ich eine gewisse Schadenfreude nicht verhehlen kann.
Nur scheint es leider, dass die Corona-bedingte Erdung alle doch noch nicht gleichermaßen erreicht hat. So fand ich den im September 2020 erschienenen Demenzreport aus der Feder von Prof. Gerd Glaeske, Leiter der Versorgungsforschung im SOCIUM Bremen, sehr ärgerlich, um es einmal vorsichtig auszudrücken.
Analysiert wurden die Daten von HKK-Versicherten aus vier Bundesländern, denen die Diagnose einer Demenz gegeben wurde, im Wesentlichen als Folge der Alzheimer-Krankheit oder aus vaskulärer Ursache. Bei diesen Patienten wurden die Arzneimittelverordnungen je nach Substanzklasse analysiert; unter den Psychopharmaka hauptsächlich Neuroleptika und Antidementiva.
Der Grundtenor, der sich unwissenschaftlich und populistisch durch den ganzen Demenzreport zieht, besteht darin, dass es eigentlich überhaupt keinen Sinn hat, Neuroleptika bei dementiellen Erkrankungen zu verordnen, sondern, dass letztere einerseits schaden und andererseits ohnehin nur zum Zweck gegeben werden, um, wie es in der Tat wortwörtlich in der Einleitung heißt (S. 7, 2. Absatz), aus rein betriebswirtschaftlichen Erwägungen mit chemischer Gewalt ältere Menschen ruhig zu stellen (der Verfasser dieser Zeilen hat hier lediglich die Worte umgestellt). Kurzum: Hier frönt der medizinisch-industrielle Komplex vollauf seinen perversen, sadistischen Neigungen (dies ist nun in der Tat vom Verfasser).
Im nächsten Absatz ist dann von sauber, satt und ruhig die Rede. Ich habe vor 10 Jahren einmal ein Symposium organisiert, das sich ausschließlich innovativen und patientenfreundlicheren, architektonischen Bestrebungen in Pflegeinstitutionen gewidmet hat. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde das Motto „satt, sauber und still“, die drei S, wie es korrekt heißen muss, tief im Diskurs der 70er Jahre verortet, wo Herr Prof. Glaeske unwiederbringlich steckengeblieben zu sein scheint. Im selben Absatz wird es dann noch absurder. Plötzlich wird auf den offensichtlich weit verbreiteten und menschenverachtenden Einsatz von Magensonden in amerikanischen Pflegeheimen rekurriert.
Man fragt sich, was dieser Exkurs in einer Datenbetrachtung von Versichertendaten der HKK-Krankenkasse zu suchen hat. Es ist ein bewährtes Mittel der populistischen Leserverdummung: Man unterfüttere seine polemischen und demagogischen Intentionen ein wenig mit wissenschaftlicher Garnitur und, schwuppdiwupp, hat man den unbedarften Leser, z. B. Berufspolitiker, auf seiner Seite. Bevor ich mich noch mehr echauffiere, zunächst 2 Kasuistiken aus eigener Praxis, die den sinnhaften und humanen Einsatz von Psychopharmaka, inklusive Neuroleptika bei Alzheimerdemenz, verdeutlichen sollen, einschließlich ihrer Grenzen.
Ich habe bei letzterem Fall und das ist im Übrigen bei meinen Patienten keine Ausnahme, beobachten können, wie der Ehemann, pensionierter Polizeibeamter und gelernter Koch, der einige Jahre nach seiner Pensionierung noch gemeinsam mit seiner Frau einen Imbiß betrieben hat, sich in vorbildlicher Weise um sie gekümmert hat. Selbst als diese in 2018 und 2019 bereits ein mittelgradig bis schwer ausgeprägtes dementielles Syndrom hatte, hat er mit ihr weiterhin Urlaubsreisen unternommen; die letzte führte 2019 ins Erzgebirge. Zu diesem Zeitpunkt profitierte sie jedoch nicht mehr von einem Ortswechsel, sondern die veränderte Umgebung führte zu vermehrter Unruhe und Aggressivität, so dass in der Folge nur noch stundenweise Ausflüge unternommen wurden.
Ansonsten hat der Ehemann sie bis zuletzt in tägliche Aktivitäten eingebunden, die ihr zusagten und hat die Belastung mit dem sprichwörtlichen rustikalen Berliner Schmäh und Humor gemeistert. Wir haben alle Aspekte der Demenz in einer sehr hemdsärmeligen Art und Weise thematisiert und es war eindrucksvoll, zu beobachten, wie der Ehemann ohne spezifische medizinische Vorbildung intuitiv sämtliche Untiefen einer fortschreitenden dementiellen Erkrankung erkennen, einordnen und unter minimalem, sehr konkretem Coaching durch den Behandler adäquat reagieren konnte.
Herr Prof. Glaeske spricht hier manieriert u. a. von milieutherapeutischen Maßnahmen (S. 34). Das ist ohnehin ein überwiegendes Wesensmerkmal der Sozialwissenschaften, dass man die eigene intrinsische Unfähigkeit, einen erkennbaren wissenschaftlichen Beitrag und einen Erkenntnisfortschritt in einer Sache zu erbringen – eigentlich etwas, worüber wir uns mondial seit einiger Zeit geeinigt haben – dadurch kompensieren möchte, dass man Allerweltssachverhalte bis zur Unerträglichkeit terminologisch aufbläst. Man fühlt sich beim Lesen solcher Traktate beständig wie in Andersens Märchen von des Kaisers neuer Kleider.
Besonders skurril wird es auf Seite 38 des Seniorenreports. Bezogen auf die Therapie mit Neuroleptika finden wir hier folgenden bedeutungsschweren Satz: „Menschen mit Demenz werden durch eine solche Therapie lediglich auf ihre Symptome reduziert, ihre Verhaltensbotschaften bleiben bei Ärztinnen und Ärzten/Pflegepersonen dagegen überwiegend unerkannt.“
Wir gehen ohne Umschweife in medias res und fragen uns, worin z. B. die Botschaft des „sich repetitiv auf die Brust Schlagens“ bei obiger Patientin besteht. Ist es im Spätstadium dieser Erkrankung Ausdruck einer Wiederannäherung an den Primaten an sich, um es einmal kantisch auszudrücken, und hätte man, anstelle die Patientin mit einer Kombination aus Quetiapin und Risperidon zu behandeln, letztere vielleicht in den kongolesischen Regenwald zu den Berggorillas bringen sollen, ganz wesentlich auch unter milieutherapeutischen Gesichtspunkten? Wollte sie uns das sagen?
Oder bei ersterer Patientin: Wollte sie uns durch ihren Wahn, dass der Nachbar in ihr Haus eindringen und Gegenstände entwenden würde, jetzt einmal psychodynamisch, freudianisch betrachtet, vielleicht mitteilen, dass sie sich sexuell schon immer zum aufregenderen Nachbarn anstelle des langweiligen Gatten hingezogen fühlte und dass sich dieses nun unter reduzierter kognitiver Kontrolle so Bahn bräche? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.
In Wirklichkeit ist es schlicht so, dass die fortschreitende schwere neurologische Beeinträchtigung im Rahmen einer Alzheimererkrankung, als mit Abstand häufigster Demenzursache bei über 65-Jährigen, u. a. frontale Kontrollmechanismen beeinträchtigt, was ganz wesentlich die unterschiedlichsten Verhaltensauffälligkeiten und hochwahrscheinlich auch die psychotischen Symptome erklärt. Das ist aber ein Thema für einen eigenen Artikel und kann hier nur angedeutet werden.
Der Herr Prof. sollte sich seines Satzes schämen. Anstatt sich aber kurz zu fassen, setzen sich auf den nächsten Seiten dergleichen Unsäglichkeiten fort: da ist dann vom sogenannten „herausfordernden Verhalten“ der Dementen die Rede. Diesem Begriff ist schlicht nichts mehr hinzuzufügen; es verschlägt dem wohlmeinenden Leser einfach die Sprache. „Deshalb sei es wichtig, grundsätzlich die psychosoziale Kompetenz der Pflegenden mit Blick auf die Wissens-, Wahrnehmungs- und Verhaltensebene durch Pädagoginnen und Pädagogen innerhalb der schulischen Ausbildung sowie in den Weiterbildungen zu fördern“ (S. 46 des Seniorenreports). Unsinn: Wichtig ist es, empathisch und fürsorglich mit Demenzkranken umzugehen und sie möglichst natürlich kognitiv zu fördern, motorisch zu aktivieren und wo immer möglich sozial einzubeziehen. Das können die meisten Angehörigen in meinen Augen definitiv besser als irgendwelche sogenannten Berufenen.
Ich erinnere mich an eine Ehefrau, die ihren bereits schwer erkrankten Ehemann, der kaum noch zu Sprachäußerungen in der Lage war und mit dem sie wesentlich nonverbal kommunizierte, schlicht überall mit hingenommen hat, in die Bank, ins Restaurant, ganz natürlich und offensiv. Ich war von dieser Umgehensweise mit der Erkrankung berührt und beeindruckt. Das kann man aber nicht von jeder/jedem verlangen. Demenz ist im fortgeschrittenen Stadium eine furchtbare Erkrankung und daran ändern irgendwelche verquasten Betrachtungen schlicht nichts. Befremdlich ist ebenfalls, dass der hier in Rede stehende Report in leitender Verantwortung von jemandem verfasst wird, der gar kein Mediziner ist und selbstredend über keinerlei klinische Erfahrung verfügt. Das scheint aber niemanden zu interessieren. Irgendwie meint der Herr Prof., er habe hier ein Nischchen gefunden, wo er sich so richtig austoben könne. Da verwundert es einen nicht, dass uns über beträchtliche Teile des Demenzreports Binsenweisheiten über Demenzen serviert werden, die in jedem Lehrbuch besser stehen.
Aber Mediziner lassen sich ja so einiges gefallen. Das wäre ungefähr so, als würde ich als Neurologe mich erdreisten, einen Report über den Zustand der Deutschen Autoindustrie verfassen und angelesenes Bildungsbürgerwissen über Mobilitätskonzepte der Zukunft zum Besten geben. Zu guter Letzt ist noch zu sagen, dass die S3-Leitlinie „Demenzen“ natürlich den Einsatz von Neuroleptika und anderen Psychopharmaka bei dementiellen Syndromen unter verschiedenen Bedingungen als indiziert ansieht und dass die Datenlage hier bei Weitem nicht so eindeutig negativ ist, wie Herr Prof. Glaeske das darstellt. Aber eine genauere Betrachtung ist hier ebenfalls etwas für einen weiteren Artikel.
Bildquelle: Farzan Lelinwalla, Unsplash