Ärzte werden finanziell dafür belohnt, wenn sie möglichst wenig Labor machen. Dafür sorgt der Laborbonus. Warum er in meinen Augen problematisch und sogar gefährlich ist.
Es gibt ein Thema, das mir ehrlich gesagt immer wieder Bluthochdruck macht: Die Wirtschaftlichkeit in der Hausarztpraxis. Mir ist klar, das alles, was ich aufschreibe, auch wieder von der Krankenkasse (und damit von der Gesellschaft) bezahlt werden muss. Deswegen sollte man keineswegs leichtfertig damit umgehen. Aber ich finde es inzwischen ethisch grenzwertig, welche Vorgaben wir bekommen. Ein Beispiel, das mich besonders ärgert ist der „Laborbonus“. Er bedeutet quasi, dass man als Arzt belohnt wird, wenn man möglichst wenig Labor macht.
Dass man nicht immer alle möglichen Werte ankreuzen kann, finde ich völlig verständlich. Die Aussagekraft diverser Werte ist ja oft ziemlich begrenzt. Andererseits sehe ich diesen Bonus aus mehreren Gründen problematisch: Wir sind eine Landarzt-Praxis, die natürlich versucht, ihren oft älteren Patienten die weiten Wege zu den Spezialisten in der Stadt zu ersparen. Dafür nehmen wir Blut ab und faxen die Labore zu den Spezialisten, damit diese dann ggf. reagieren können. Damit bezahlen wir den Vorgang auch komplett. Und das obwohl es meines Wissens nach teilweise sogar in der Vergütung bestimmter Leistungen für die Facharzt-Kollegen enthalten ist (wie z.B. der TSH-Wert vor CT).
Das häufigste Problem in dieser Hinsicht sind Werte wie TSH, BNP, CRP, Eiweißelektrophorese, Ferritin, Vitamin B12 und ähnliches. Jeder einzelne dieser Werte wirkt nicht teuer (ca. je 4–15 Euro). Anders als eine Borrelien-Serologie, die zwischen 50 und 150 Euro kostet. Sie fallen aber unter die Kategorie Kleinvieh macht auch Mist. Gerade nach „Schilddrüsen- und Eisenwerten“ wird oft gefragt und dem nachzugehen, ist auch durchaus häufig berechtigt (speziell bei Müdigkeit). Da geht es dann schon los, dass auf das Budget geschaut werden muss, weil man es sonst locker reißt. Und in vielen Leitlinien werden diese Werte ja auch empfohlen (z.B. CRP bei unklaren Gelenkschmerzen, z.A. einer chronisch-entzündlichen Gelenkerkrankung, Vitamin B12 bei Polyneuropathien, etc.). Heißt das für mich als Hausärztin, dass ich mich zwischen leitliniengerechter Versorgung und weniger Arbeitslohn entscheiden muss?
Jetzt mögen einige einwenden, dass man doch einfach überweisen könnte, damit man das Budget der anderen belastet und nicht sein eigenes. Dieses Sankt-Florians-Prinzip verschiebt a) das Problem nur, aber löst es nicht und b) werden am Ende alle ärztlichen Leistungen ja eh aus einem Topf bezahlt, so dass man sich spätestens da wieder ins eigene Fleisch schneidet. Auch Überweisung schützt nicht vor Budget-Belastung, wie ich feststellen durfte.
Ein junger Mann kam sehr häufig mit Magen-Darm-Infekten. Eine komplette gastroenterologische Abklärung war ohne wegweisenden Befund verlaufen. Trotzdem fand ich es seltsam, wie oft er erkrankte. Also nochmal Labor inkl. CRP (doch Chronisch-entzündliche Darmerkrankung?) und Elektrophorese (Mangelernährung?). Und plötzlich kam heraus, dass dieser 30-Jährige (!) viel zu wenig Immunglobuline im Blut hatte. Laborfehler?
Da ich selbst unsicher war, hab ich ihn zum Hämatologen geschickt. Der war zwar bei der telefonischen Übergabe sehr skeptisch, empfahl dann aber nach einer erweiterten Laborkontrolle doch eine Vorstellung in einer Immunambulanz. Gesagt, getan. Der Patient kam daraufhin mit einer laaaaangen Wunschliste von besagter Immunambulanz, auf der stand, was wir alles testen sollten: Diverse Immun-Subpopulationen und auch den Impfschutz gegen diverse Impfungen bis hin zu einer Testung vor und nach einer Pneumokokken-Impfung.
Ich hatte meinem Chef davon erzählt und wollte schon den Patienten für einen Termin anrufen, dann kam raus: Das sollte alles komplett auf unser Hausarzt-Laborbudget gehen. Ich war platt – die Immunambulanz einer Uniklinik möchte Spezialwerte, für die wir als kleine Landarztpraxis zahlen sollen? Ich hab das dann mal grob überschlagen und feststellen müssen, wieviel Geld das war – mehrere Hundert Euro. Was tun?
Ich entschied, den Hämatologen nochmal anzurufen und zu fragen, ob er einen Rat wüsste. Netterweise erklärte sich der Kollege bereit, uns die Aufkleber zu schicken für das Labor, so dass die Blutabnahme auf sein Budget lief. Damit musste der Patient aber nicht die 30–40 km zum Hämatologen fahren, sondern konnte eben die wenigen Kilometer zu uns kommen.
Am Ende stand eine für den Patienten lebenswichtige (und gerade in Anbetracht des Corona-Virus möglicherweise sogar lebensrettende) Diagnose: ein eher heftigerer Immundefekt, der dafür sorgt, dass er regelmäßig Immunglobulintransfusionen haben muss. Zusätzlich kam heraus, dass einige Impfungen bei ihm überhaupt keinen Impfschutz hinterlassen, was definitiv auch eine wichtige Information ist. Auch beruflich musste er sich umorientieren – viel Publikumsverkehr ist natürlich in dieser Situation schwierig. Er hat jetzt einen Job, bei dem er mit weniger Menschen Kontakt hat.
All diese Dinge sind im Endeffekt nur aufgrund der Labordiagnostik herausgekommen. Und auch wenn solch krassen Fälle sicher selten sind: Sie kommen offensichtlich vor. Und um das nochmal zu betonen, ich rede nicht von „Gießkannen-Labor“, wo man einfach mal alles ankreuzt, sondern schon von einer gezielten Diagnostik. Aber sollte nicht eine leitliniengerechte Diagnostik möglich sein, ohne dafür finanziell bestraft zu werden? Klar, einige mögen jetzt erwidern, dass man dies ja auch alles „IGeLn“ könnte. Aber auch das finde ich ethisch eher schwierig, denn es bedeutet, dass man sich die Werte auch leisten können muss. Das erscheint mir doch sehr fragwürdig, wenn ich bei meinen Patienten für das „Müdigkeitspaket“ mit Ferritin- und TSH- und Vitamin D-Check werben muss. „Für nur 35 Euro!“ Das fühlt sich für mich sehr falsch an. Ich bin Arzt, kein Verkäufer. Und damit wahrscheinlich aus der Zeit gefallen.
Wo setzt man also die Grenze? Beim Vitamin D, weil es zwar oft erfragt wird, aber in prospektiven Studien nicht wirklich einen relevanten Effekt auf diverse Krankheitsbilder zeigen konnte? Der B12-Wert beim Veganer – ist das eine Kassenleistung, so lange er noch keine Beschwerden hat?
Der Veganismus an sich ist ja definitiv keine Krankheit, aber zu warten, bis Beschwerden auftreten, erscheint mir auch wieder sehr fragwürdig. Oder auch „IGeLn“? Spätestens bei einer jungen Frau mit möglichem Kinderwunsch (und den damit verbundenen schweren Folgen für das Kind, wenn wirklich ein Mangel vorliegt) erscheint es mir doch sehr schwierig, das nur als „Zusatzkaufoption“ anzubieten.
Wie kann man dieses Problem als Arzt lösen? Unser Beruf sorgt schon so dafür, dass wir regelmäßig schwierige Entscheidungen treffen müssen. Oft unter Zeitdruck, oft mit wenigen Informationen, häufig mit auch schweren Konsequenzen für unsere Patienten. Müssen dann diese finanziellen „Daumenschrauben“ auch noch sein? Ich würde mir sehr wünschen, dass da besser praktikable Lösungen gefunden werden. Denn so wie es ist, habe ich das Gefühl, teilweise zwischen leitliniengerechter und finanziell dauerhaft machbarer Versorgung meiner Patienten wählen zu müssen.
Ich bin für Vorschläge dankbar.
Bildquelle: engin akyurt, Unsplash