MEINUNG | Viele Patienten profitieren nachweislich von einer Ernährungstherapie. Warum wird sie also gerade bei Diabetes und Adipositas nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen? Zwei Beispiele aus der Praxis.
Ich bin Diätassistentin, tätig im einzigen anerkannten Heilberuf für Ernährung, Examen 1986, im Jahr 2000 begann ich mit der Selbständigkeit in der Ernährungstherapie und -beratung.
Die Reaktionen meiner Umwelt: Manche begannen sich zu rechtfertigen, für das, was sie essen, einkaufen oder für ihre Statur, oder es kam die Bitte „Ach, schreib mir doch auch mal einen Diätplan!“ Es war deutlich, kaum einer weiß, was eine Diätassistentin tut.
Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme entsprechend wissenschaftlicher Erkenntnisse. Es hält bekanntlich „Leib und Seele zusammen“. Es geht darum, den Klienten zu befähigen, gute Entscheidungen für sich zu treffen, dabei flexibel zu bleiben und Genuss zuzulassen, sich nicht unnötig einzuschränken und trotzdem (oder gerade deshalb) seine Symptome zu verbessern. In Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt können das sein: die Blutzuckerwerte eines Diabetikers, die gastrointestinalen Beschwerden bei Unverträglichkeiten oder simples bei Kräften bleiben bei onkologischen Erkrankungen. Ein Schlüssel dazu ist die unbedingte Wertschätzung des Klienten, ihm empathisch zu begegnen und seine Wünsche und Lebenserfahrungen, seine Resourcen und Lebensumstände mit einzubeziehen.
Seit langer Zeit kämpft mein Berufsverband VDD (Verband der Diätassistenten) für die Anerkennung der Ernährungstherapie als Heilmittel. Vor Kurzem wurde sie nur für zwei extrem exotische Indikationen (Mukoviszidose und seltene angeborene Stoffwechselerkrankungen) anerkannt. Das bedeutet, dass allen anderen Patienten, die entsprechend der Leitlinien eine Ernährungstherapie erhalten sollten, diese Therapie vorenthalten wird.
Völlig unzureichend ist das Ausweichen auf die freiwillige Leistung der GKV mit maximal 5 Sitzungen und oft erheblichen Zuzahlungen (bei denen auch die Befreiung der Zuzahlung bei Bedürftigkeit nicht greift, meist gibt es auch keine besseren Regelungen für Kinder und Jugendliche). Keinen Rechtsanspruch auf eine Ernährungstherapie zu Lasten der GKV haben somit Menschen mit Diabetes, Adipositas, Fettstoffwechselstörungen, Allergien und Unverträglichkeiten, onkologischen Erkrankungen, Osteoporose, Mangelernährung und vielen weiteren Indikationen. Das kostet die Betroffenen viel Lebenszeit und -qualität und unsere Gesellschaft richtig viel Geld, weil es zu Folgeerkrankungen und Komplikationen kommt.
Es war hier schon immer schwer in der Freiberuflichkeit, denn diese Rahmenbedingungen führen dazu, dass derzeit bundesweit nur sehr wenige Diätassistenten von ihrer selbständigen Arbeit leben können. Viele Selbständige haben noch eine Halbtags-Anstellung oder sie sehen die Selbständigkeit nur als Zubrot. Aber es ist einfach nicht in Ordnung, dass es fast unmöglich ist, ein Auskommen zu haben trotz einer soliden Ausbildung in einem anerkannten Heilberuf, trotz erheblichem Aufwand für Fortbildungen (um alle 3 Jahre neu zertifiziert zu werden), trotz langen Arbeitstagen und trotz einer verantwortungsvollen medizinischen Tätigkeit.
Aber jetzt kommt es noch dicker:
Fall 1: Eine Patientin mit einer chronischen und konsumierenden Erkrankung erhielt in der Post-Akutphase (nach einer – unfreiwilligen –Gewichtsabnahme von 8 kg Gesamtkörpergewicht in 10 Tagen) die ärztliche Verordnung für eine ernährungstherapeutische Maßnahme zur Optimierung von Gewicht und Gesundheitszustand. Eine ambulant tätige, qualifizierte und spezialisierte Diätassistentin war schnell gefunden, und ein Antrag an die Krankenkasse zur finanziellen Unterstützung wurde gestellt. Die (finanzielle) Unterstützung von Seiten der Krankenversicherung wurde abgelehnt und die verordnete Therapiemaßnahme als Prävention eingestuft.
Die Patientin sollte demnach keine therapeutische Maßnahme mehr erhalten, sondern eine so genannte Präventionsleistung mit dem Ziel, einer künftigen Fehl- und Mangelernährung vorzubeugen. Die ärztlich angeordnete Therapiemaßnahme wurde damit eigenmächtig von der Kasse geändert. Alternativ bot die Krankenversicherung der schwer kranken Patientin Unterstützung über eine App-gesteuerte Ernährungsberatung an, ohne Berücksichtigung ihrer komplexen persönlichen und technischen Gegebenheiten und Fähigkeiten.
Fall 2: Herr Z., geb. 1935, seit 2 Jahren dialysepflichtig, mit Vollbild des metabolischen Syndroms, mit 15 verschiedenen, täglich zu nehmenden Medikamenten, stellte sich bei mir vor, weil seine Kaliumwerte regelmäßig inakzeptabel hoch waren (führte zu stationären Krankenhausaufenthalten). Er konnte die Trinkmengenbeschränkung nicht umsetzen und nahm zu wenig Protein zu sich, dafür zu viel Phosphat. Seine Ehefrau, geb. 1940, war für Einkauf und das Kochen zuständig. Sie brauchte ebenfalls Ernährungstherapie wegen zunächst unklarem Gewichtsverlust, ausgelöst durch vermehrten Energiebedarf durch Asthma, Sklerodermie und zeitweise Soor im Ösophagus. Mundtrockenheit und Obstipation verschärften die Mangelernährung. Im gleichen Haushalt lebte der Sohn, geb. 1971, der durch Unverträglichkeiten einige Einschränkungen in der Lebensmittelauswahl hatte.
In der ambulanten Ernährungstherapie konnten Strategien gefunden werden, von denen alle Familienmitglieder profitierten und die praktikabel waren. Nach nun 2 Jahren hat sich erneut ein Bedarf für Ernährungstherapie ergeben. Wenn die Familie wieder zu mir kommt, wird sie die Ernährungstherapie selbst voll bezahlen müssen, da die Krankenkasse der Familie inzwischen nur noch eine App-basierte Beratung übernimmt (App-basierte Infobausteine in einer so komplexen Situation – da sind Fragezeichen angebracht). Selbst bezahlen kann die Familie aber nicht und das digitale Angebot können und wollen sie nicht nutzen.
Mit großer Sorge um die künftige Qualität der ambulanten Ernährungstherapie und -beratung betrachte ich die Tendenz vieler Krankenkassen, Patienten ambulante Ernährungstherapie in Präsenz mehr und mehr zu verweigern und stattdessen ausschließlich App-gestützte Online-Beratungen finanziell zu unterstützen – ein Vorgehen, das aus meiner Sicht die Qualität der Therapie und das Wohl der Patienten gefährdet. Ausdrücklich nicht gemeint sind hier so genannte DiGAs (Digitale Gesundheitsanwendungen).
Meine Kolleginnen und ich haben unsere Sorgen auch in einer Petition formuliert. Patienten müssen aus unserer Sicht auch künftig im Rahmen einer ärztlich verordneten Ernährungstherapie selbstbestimmt zwischen persönlicher Präsenz- und digitaler Durchführung wählen können, ohne dass diese Entscheidung von vorwiegend wirtschaftlichen Überlegungen der Krankenversicherungen bestimmt wird.
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