Deutschlands Patienten erhalten im EU-Schnitt neue Medikamente vergleichsweise rasch. Dem stehen hohe Kosten gegenüber. Krankenkassen können sich gut vorstellen, die Zügel beim AMNOG zu straffen. Das hören die Hersteller nicht gerne und kritisieren Schwachstellen.
„Teile der pharmazeutischen Industrie werden nicht müde, die angeblich schlechten Bedingungen für die Patientinnen und Patienten und sich selbst in Deutschland zu beklagen“, moniert der GKV-Spitzenverband. Um Licht ins vermeintliche Dunkel zu bringen, hat Professor Dr. Reinhard Busse von der TU Berlin im Kassenauftrag Rahmenbedingungen verschiedener EU-Staaten zur Pharmakotherapie verglichen. Seine Ergebnisse wurden jetzt als Studie „Arzneimittelversorgung in der GKV und 15 anderen europäischen Gesundheitssystemen“ veröffentlicht.
Busses Fazit: Nirgendwo in Europa kommen Patienten derart schnell in den Genuss neuer Präparate wie in Deutschland. Diese Tatsache geht mit im europäischen Vergleich hohen Arzneimittelausgaben einher. Als Basis dienen regionale Preise nach Rabatt- und Erstattungsbetragsverhandlungen – aber nicht Listenpreise, wie noch in älteren Arbeiten anderer Autoren. Da der Generikaanteil gleichermaßen hoch liegt – etwa 75 Prozent aller Verordnungen und 37 Prozent aller Ausgaben in diesem Bereich – sind neue Pharmaka schuldig im Sinne der Anklage. Ein Knackpunkt: Nur hier zu Lande haben Hersteller die Möglichkeit, im ersten Jahr ihre Preise selbst festzulegen: Gründe, die Deutschland nach wie vor zu einem attraktiven Pharmastandort machen, so die Quintessenz. Während gesetzlich Versicherte bei uns nach der Zulassung und Nutzenbewertung in den Genuss einer umfassenden Erstattungsfähigkeit kommen, ziehen andere Staaten mehr und mehr die Notbremse.
Das geht so: Laut Busse beschränkt sich vielerorts der Einsatz neuer Arzneimitteln auf spezielle Patientengruppen, bei denen tatsächlich ein Mehrwert nachweisbar ist. „Um das Preis-Leistungs-Verhältnis bei neuen Medikamenten zu verbessern, sollte auch in Deutschland eine gezieltere Nutzungssteuerung bei neuen Arzneimitteln erwogen werden“, erklärt der Forscher. Daten gibt es zur Genüge – über die frühe Nutzenbewertung laut AMNOG. Johann-Magnus von Stackelberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, fordert auch, „dass die am Zusatznutzen orientierten Erstattungsbeträge in Zukunft rückwirkend gelten müssen“. Aufgrund mehrjähriger Erfahrungen hält er entsprechende Kalkulationen seitens der Hersteller für realistisch, um abzuschätzen, welche Auswirkung Preisverhandlungen tatsächlich haben.
Nicht nur Firmen nimmt der Vize des GKV-Spitzenverbands in die Pflicht. Auch Patienten drohen tiefgreifende Einschnitte, sollte sich von Stackelberg politisch Gehör verschaffen. Schließlich müssten gesetzliche Krankenkassen die Möglichkeit haben, zu sehen, ob Versicherte einer bestimmten therapeutischen Gruppe angehören und damit in den Genuss neuer Präparate kommen – oder eben nicht. Gesetzesänderungen hält der Spitzenverband nicht für erforderlich. Von Stackelberg äußerte die Idee, weitere Zusatzinformationen, beispielweise Genotypen oder diagnostische Spezifika ihrer Erkrankung, auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) zu speichern. Nur Ärzte und GKVen sollten auf entsprechende Daten zugreifen, nicht aber Apotheker oder Versicherte selbst.
Kritik am neuen Vorstoß kommt wenig überraschend vom Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Experten setzen sich mit allen vier Studien, die Kassenvertreter zitiert hatten, auseinander. Ihr Fazit: Drei Arbeiten beziehen sich auf Zeiträume vor Inkrafttreten des AMNOG – „und sagen somit gar nichts über das durch das AMNOG veränderte Niveau aus“, heißt es in einer Mitteilung. Die vierte zitierte Veröffentlichung stellt Preise von 30 Produkten in 16 europäischen Ländern gegenüber, wohlgemerkt nach Inkrafttreten des umstrittenen Regelwerks. Allerdings habe lediglich ein einziges Präparat das AMNOG-Verfahren durchlaufen. Bei diesem Produkt punkte Deutschland sogar mit den niedrigsten Kosten. Generell sei das Preisniveau für neue Medikamente nach Einführung der frühen Nutzenbewertung unter den europäischen Durchschnitt gefallen, so das Resultat von vfa-Recherchen. Etwa 73 Prozent lägen unterhalb des Durchschnitts europäischer Nachbarländer, und 38 Prozent der hiesigen Preise seien sogar die niedrigsten. Verbandsinformationen zufolge üben GKVen zusätzlich regional Druck auf Ärzte aus, neue Pharmaka nicht beziehungsweise nicht sofort zu verordnen. Ihre Vorgehensweise: regressbewährte Prüfungen der vermeintlichen Wirtschaftlichkeit von Praxen. Im Ergebnis seien neue Medikamente bei uns zwar schnell im Markt, würden Patienten aber meist nur langsam erreichen, resümiert der vfa. Apotheker und Ärzte warten schon lange auf neutrale Studien, um den Effekt des verhassten AMNOG objektiv zu quantifizieren. Das kann noch dauern.