Unter Ärzten herrscht Unsicherheit darüber, ob Immuntherapien den Verlauf von COVID-19 verschlimmern. In einer Studie wurden nun Verläufe von über 800 Multiple-Sklerose-Patienten untersucht, die sich mit SARS-CoV-2 infiziert hatten.
Die Gefahr, nach einer SARS-CoV-2-Infektion einen schweren COVID-19-Verlauf zu entwickeln, ist für Menschen mit Risikofaktoren wie fortgeschrittenem Alter, starkem Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck oder Herzschwäche deutlich erhöht. Eine Herausforderung für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ist aber auch der Umgang mit chronisch kranken neuroimmunologischen Patienten, die mit Medikamenten behandelt werden, die das Immunsystem unterdrücken.
Wissenschaftler der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) haben jetzt in einer Studie untersucht, ob sich für Patienten mit Multipler Sklerose (MS) bei der Infektion mit dem Coronavirus das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf durch die immunmodulierende Therapie erhöht.
„Aus Angst, ihren Patienten möglicherweise zu schaden, haben einige behandelnde Ärzte seit Beginn der Pandemie sogar auf eine Immuntherapie verzichtet“, erklärt Prof. Thomas Skripuletz. Auch MS-Patienten selbst hätten aus Unsicherheit ihre Behandlung ausgesetzt und etwa Termine in der MHH-Infusionsambulanz verschoben. Diesen Zustand wollten die Wissenschaftler ändern.
Um eine Therapieentscheidung auf Basis von Fakten zu schaffen, wurden in der Übersichtsarbeit die bislang veröffentlichten Fallberichte verschiedener medizinischer Publikationen zusammengeführt. „Wir haben Daten zu 873 positiv auf SARS-CoV-2 getesteten MS-Patienten ausgewertet und die Krankheitsverläufe verglichen“, sagt Dr. Nora Möhn, Erstautorin der Studie.
Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass Patienten, die weiter mit immunsuppressiven Medikamenten behandelt wurden, weniger schwer erkrankten und seltener starben als solche ohne Behandlung mit MS-Therapeutika. „Diese Erkenntnis passt mit unseren Beobachtungen aus der Klinik zusammen“, betont die Neurologin.
Eine mögliche Erklärung dafür sehen die Wissenschaftler in der durch SARS-CoV-2 verursachten überschießenden Immunreaktion, die im Verdacht steht, mehr Schäden zu verursachen als das Virus selbst. Diese unerwünschte Hyperaktivität des Immunsystems werde eventuell von den immunmodulierenden Medikamenten sogar abgeschwächt. „Die Daten sprechen jedenfalls dafür, dass die Medikamente die Virusabwehr nicht entscheidend negativ beeinflussen, hingegen unbehandelte und schwer betroffene MS-Patienten besonders gefährdet sind“, sagt Studienleiter Skripuletz.
Bisher veröffentlichte Studien zu anderen neurologischen Erkrankungen kämen zu demselben Ergebnis. „Es ist daher ratsam, chronische neuroimmunologische Patienten bestmöglich zu behandeln, damit sie möglichst fit sind“, betont der Mediziner.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Austin Neill, unsplash