Das Protein VEGFR1 sensibilisiert Nerven für Schmerzen, wodurch diese bereits auf leichte Reize mit einer Schmerzmeldung reagieren. Die Intensität von Tumorschmerzen hängt direkt mit Menge und Aktivität von VEGFR1 zusammen. Folgt hieraus eine gezieltere Tumorschmerztherapie?
Erreicht ein Tumor eine bestimmte Größe, benötigt er für sein weiteres Wachstum eine gute Anbindung an den Blutkreislauf. Indem er bestimmte, auch im gesunden Körper vorkommende Wachstumsfaktoren an seine Umgebung abgibt, regt er benachbarte Blutgefäße dazu an, neue Verzweigungen zu bilden. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielen der Wachstumsfaktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) und verwandte Moleküle. Sie binden an Rezeptorproteine (VEGF-R1 und -R2) in den Gefäßwänden und aktivieren so die Bildung neuer Blutgefäße. Diese Moleküle sind aber auch bei Entwicklungsprozessen im Nervensystem beteiligt und Nervenenden außerhalb von Gehirn und Rückenmark tragen auch im Erwachsenenalter noch VEGF-Rezeptoren an ihrer Oberfläche. „Wozu ausgereifte Nervenzellen Sensoren für Wachstumsfaktoren des Gefäßsystems benötigen, ist unklar. Allerdings ist die Interaktion zwischen Nerven und Blutgefäßen bisher noch kaum erforscht“, sagt Prof. Dr. Rohini Kuner von der Universität Heidelberg.
Die Wissenschaftler zeigten im Mausversuch, dass die Wachstumsfaktoren wie VEGF Nerven für Schmerzreize sensibilisieren: Sie reagieren fortan schon auf geringe, an sich harmlose Reize mit einer Schmerzmeldung. Verantwortlich dafür ist allerdings nur einer der beiden Rezeptoren, der VEGF-Rezeptor 1. Dies entdeckten die Forscher, indem sie die Rezeptorproteine 1 und 2 jeweils einzeln und gezielt nur in den Nervenzellen blockierten. Ohne funktionsfähigen Rezeptor 1 trat beim Abtasten kaum Sensibilisierung auf, ohne Rezeptor 2 dagegen war die Empfindlichkeit unverändert erhöht. Zusätzlich analysierte das Team Tumorgewebe von Patienten mit dem sehr schmerzhaften duktalen Pankreaskarzinom. Die Patienten wurden entsprechend ihrer Schmerzen vor der Operation in drei Gruppen eingeteilt. Es zeigte sich: Je stärker die Tumorschmerzen, desto mehr VEGFR1 fand sich auf der Oberfläche der Nervenendigungen. „Wir gehen davon aus, dass die Intensität der Tumorschmerzen direkt mit der Menge und Aktivität des Rezeptorproteins VEGFR1 zusammenhängt“, sagt Erstautorin Dr. Deepitha Selvaraj vom Pharmakologischen Institut. Auch bei den äußerst schmerzhaften Tumorabsiedlungen in Knochen, z.B. bei Prostatakrebs, ist die Menge des Rezeptorproteins auf den umliegenden Nervenzellen erhöht. „Unsere Ergebnisse zeigen allerdings nur, wie es zur Sensibilisierung der Nervenzellen durch das Tumorwachstum kommt. Was anschließend den anhaltenden Tumorschmerz aufrecht erhält, muss noch erforscht werden“, so die Wissenschaftlerin. Offen ist zudem die Frage, warum nur bestimmte Tumoren Schmerzen auslösen, andere, wie beispielsweise das Mammakarzinom, trotz gleicher Wachstumsmechanismen dagegen nicht.
Trotzdem geben die Arbeiten erste Anhaltspunkte, wie Tumorschmerz in Zukunft besser behandelt werden könnte: „Wir empfehlen, direkt den Rezeptor 1 mit Hilfe spezieller Blocker auszuschalten. Fängt man die Wachstumsfaktoren ab, was man bereits bei einigen experimentellen Krebstherapien tut, um das Tumorwachstum zu stoppen, greift man gleichzeitig die gesunden Blutgefäße an. Bei einer R1-Blockade konnten wir bisher keine Gefäßveränderungen feststellen“, so Kuner. Originalpublikation: A Functional Role for VEGFR1 Expressed in Peripheral Sensory Neurons in Cancer Pain Deepitha Selvaraj et al.; Cancer Cell, doi: 10.1016/j.ccell.2015.04.017; 2015