Krebsmedikamente haben sich zu einer sprudelnden Einnahmequelle pharmazeutischer Hersteller entwickelt. DocCheck sprach mit einem Onkologen, der Vorwürfe erhebt: „Vielen Firmen fehlt die soziale Verantwortung.“
„Krebs ist ein traditionell angstbesetztes Thema, bei dem weder Politiker noch Kassen um Behandlungskosten verhandeln wollen“, sagt der Onkologe, der anonym bleiben möchte. „Das scheinen Pharmafirmen aus reiner Profitgier auszunutzen, um in die gut gefüllten Töpfe von Krankenkassen zu greifen.“ Sein Kritikpunkt: „Obwohl die Technologie und das Know-how heutzutage deutlich kostengünstigere Medikamentenproduktionen zulassen, haben die Pharmafirmen nur eins im Blick: eine immer größere Gewinnmaximierung.“
Als Beispiele nennt der Experte Biologicals zur Therapie unterschiedlicher Krebserkrankungen. Alle Zahlen beziehen sich auf den Apothekenverkaufspreis (AVP) laut Roter Liste.
Für den Onkologen sind entsprechende Zahlen ein rotes Tuch. Er vermutet, die Herstellungspreise von einem Milligramm liegen bei etwa einem Euro. Angesichts der großen Zahl an Melanom- oder Bronchialkarzinom-Patienten sei ein veritabler Gewinn mit niedrigeren AVP zu realisieren – unter Schonung der Krankenkassen.
Dabei haben Hersteller den Markt durchaus im Auge, wie zwei Beispiele zeigen. Xgeva® (Denosumab) 120 mg zur Behandlung pathologischer Frakturen ist mit 439,97 Euro pro Monat deutlich günstiger. „Der relativ niedrige Preis wurde aber nicht aus reiner Nächstenliebe so gewählt“, meint der Onkologe. „Weil es schon seit vielen Jahren die ähnlich wirksamen Bisphosphonate gibt, musste sich die Firma den gängigen Preisen anpassen.“ Ganz anders verlief es mit Alemtuzumab: Jahrelang wurde das Medikament als MabCampath® bei Patienten mit chronisch-lymphatischer Leukämie (CLL), einer eher seltenen Erkrankung, gegeben. Der Preis lag laut Arznei-Telegramm bei 21,07 Euro pro Milligramm Wirkstoff. Jahre später fand der Hersteller heraus, dass Alemtuzumab auch bei der deutlich häufigeren Multiplen Sklerose wünschenswerte Effekte zeigt. Der Hersteller zog die Zulassung für CLL zurück. Bei Lemtrada®, so heißt das Präparat jetzt, werden 888 Euro pro Milligramm oder 60.000 bis 80.000 Euro pro Behandlungszyklus fällig. Das neue Präparat sei „29.000-mal teurer als Gold“, heißt es im Arznei-Telegramm.
Hohe Preise betreffen nicht nur Biologicals. Auch Small Molecules, also kleine Moleküle, die meist oral verabreicht werden, stehen bei dem Onkologen in der Kritik. So liegen die monatlichen Therapiekosten von Revlimid® (Lenalidomid) je nach Wirkstoffmenge zwischen 6.236,68 und 7.912,21 Euro. „Grundlage zur Entwicklung von Revlimid war Thalidomid, besser bekannt als Contergan®“, sagt der Experte. „Durch eine geringfügige Veränderung der chemischen Struktur war Revlimid® nicht nur besser wirksam und besser verträglich als Contergan, es konnte auch einen neuen Patentschutz genießen.“ Dabei handelt es sich um keinen Einzelfall. Trisenox® enthält das seit Jahrhunderten bekannte Arsentrioxid. Es kommt bei verschiedenen Formen der Promyelozytenleukämie zum Einsatz. Hier findet sich in der Roten Liste kein AVP. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) nennt je nach Dauer der Induktionstherapie 15.930 Euro (30 Tage) bis 26.550 Euro (50 Tage). Tritt bis zum 60. Tag keine Vollremission ein, muss die Therapie abgesetzt werden. Trisenox® kostet 5.310 Euro je Packung mit 10 x 10 mg Arsentrioxid. Die Chemikalie selbst liegt in hochreiner Form bei etwa 45 Euro für 10 g. Solche Preisstrategien stoßen nicht nur Onkologen sauer auf.
DocCheck sprach auch mit Dr. Thomas Mayer. Der Kollege befasst sich im Rahmen seiner Tätigkeit bei MEZIS („Mein Essen zahle ich selbst“) u.a. mit Fragen zur Zukunft der Arzneimittelpreise in der Onkologie. „Letztes Jahr war Palbociclib sehr im Gespräch“, erzählt der Experte. Seiner Einschätzung nach habe das Präparat „keine richtige Daseinsberechtigung“. Es wird bei Brustkrebs verordnet. Die Jahrestherapiekosten betragen laut G-BA 66.527,76 Euro. Die Vergleichstherapie mit Aromatasehemmern kostet 300 bis 400 Euro. Im Dossier schreibt der Ausschuss, der Zusatznutzen sei nicht belegt. Laut Mayer habe der Hersteller versucht, „durch Marketing bereits vor der Nutzenbewertung, über PR-Maßnahmen Ärzte zu binden“. Ansonsten kritisiert er die Strategie, dass gerade bei Krebs die Indikationen immer enger gefasst werden, „um Arzneimittel unter dem Orphan-Drug-Status zuzulassen und auf den hochpreisigen Markt zu gelangen“. Der Experte ergänzt, gerade bei neuen, personalisierten Verfahren wie der CAR-T-Zelltherapie sei es nicht möglich, langfristige Effekte abzuschätzen. Hersteller rechtfertigen hohe Kosten mit der Heilung aussichtsloser Fälle. „Wir wissen aber nicht, was langfristig passieren wird“, so Mayer. Gerade bei Verfahren wie der CAR-T-Zelltherapie kann er sich deshalb neue Preismodelle vorstellen, etwa in Form von zeitlich gestaffelten Abschlagszahlungen anstelle von einmalig exorbitanten Summen.
Gesetzliche Krankenkassen reagieren ähnlich verschnupft auf horrende Kosten bei Krebsmedikamenten. Vor wenigen Monaten hatte sich die Barmer mit der Thematik befasst. Experten untersuchten Preissteigerungen bei verschiedenen Arzneimittelgruppen. Sie fanden heraus, dass die Ausgaben für onkologische Präparate seit 2011 um 41 Prozent gestiegen waren. Bei allen anderen Präparaten betrug die Kostensteigerung gerade einmal 20 Prozent. Größere Patientengruppen scheiden als Erklärung aus. „Ziel der Pharmahersteller ist der maximale Umsatz, unser Ziel ist im Interesse der Patienten und Beitragszahler ein realistisches Preis-Leistungsverhältnis“, sagte Professor Dr. Christoph Straub beim Pressegespräch. Er ist Vorstandsvorsitzender der Barmer. Straub weiter: „Auch bei onkologischen Arzneimitteln, so segensreich viele von ihnen wirken, sind faire Preise wichtig.“ Er fordert deshalb, Medikamente fünf Jahre nach ihrer Markteinführung auf deren Nutzen hin zu überprüfen und das Preis-Leistungs-Verhältnis zu bestimmen. Prof. Dr. Daniel Grandt vom Klinikum Saarbrücken, ein Coautor des Barmer-Arzneimittelreports, bestätigt die Einschätzung von MEZIS-Mitarbeiter Mayer : „Die Pharmafirmen haben offenbar ein großes Interesse daran, Krebsmittel als Orphan Drugs zuzulassen.“ Im Zuge des Verfahrens müssten zu wenige Belege über Nutzen und Sicherheit vorgelegt werden. Grandt stört sich vor allem an schlechten Daten. Bei jedem dritten Orphan Drug gibt es zum Zeitpunkt der Zulassung gerade einmal Untersuchungen mit 100 Patienten. Deshalb fordert der Experte, auch diese Präparate einer regulären frühen Nutzenbewertung zu unterziehen. „Alle Patienten haben ein Recht darauf, zu erfahren, welche Risiken ein Orphan Drug hat“, erklärt Grandt.
Auf Nachfrage von DocCheck hat sich Dr. Jochen Stemmler vom Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ebenfalls zur Preisgestaltung geäußert. „Der Anteil der Kostenblöcke variiert von Unternehmen zu Unternehmen und auch innerhalb eines Unternehmens von Medikament zu Medikament“, sagt Stemmler. Diese Kalkulationen würden aus wettbewerblichen Gründen nicht offengelegt. „Nach unserer Erfahrung spielen aber Forschungskosten eine wichtige Rolle und das gilt auch für neue Krebsmedikamente. Der schnelle Zuwachs von medizinischem Wissen, gerade in diesem Bereich, spiegelt sich in wachsenden Forschungskosten.“ Das bestätigt auch Joseph A. DiMasi, Forscher an der Tufts University bei Boston, Massachusetts. Seine Analyse wurde im Jahr 2016 veröffentlicht. Sie basiert auf 106 zufällig ausgewählten Medikamenten von zehn Herstellern. Demnach kostet die Entwicklung und Marktzulassung eines neuen Medikaments rund 2,6 Milliarden US-Dollar. Als Grund für die hohen Kosten nennt DiMasi u.a. komplexere klinischen Studien, größere Patientengruppen, Änderungen im Design des Studienprotokolls, aber auch Gelder für die Nutzenbewertung. Stemmler sieht hingegen bei onkologischen Präparaten keine überhöhten Preise: „Der Anteil der Krebsmedikamente an den Medikamentenausgaben der Krankenkassen von 12,7 Prozent im Jahr 2016 ist angemessen.“ Er begründet dies mit einer Senkung der Sterblichkeit bei Krebs in Deutschland seit 1990 um 25 Prozent. Stemmler: „Was vor Jahren noch utopisch war, wird gerade therapeutische Realität. Die Überlebenszeiten der Erkrankten steigen: je nach Krebsart um Monate oder Jahre.“
Die Preise der Onkologika bleiben also ein kontroverses Thema. Ärzte haben kaum Handlungsspielraum, weil es keine Alternativen zu den teuren Präparaten gibt. Auch der Pharmadialog hat bisher keine sichtbaren Ergebnisse gezeigt. Die ursprünglich geplante Kostenschwelle ist nicht im neuen GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz zu finden. Ursprünglich hatten Gesundheitspolitiker geplant, dass Krankenkassen bei Präparaten, die mehr 250 Millionen Euro Umsatz im ersten Jahr erzielen, rückwirkend niedrigere Erstattungsbeträge aushandeln. „Also ist die Politik gefragt, Medikamentenpreise besser zu verhandeln“, ergänzt der Onkologe. „Ein wirksames Instrument könnte sein, dass sich die europäische Union zu einer Einkaufsgemeinschaft für Medikamente zusammenschließt und gemeinsam Preise mit den Pharmariesen verhandelt.“ Er vermutet, so mancher Hersteller würde sich dem Preisdruck beugen, um den lukrativen EU-Markt nicht zu verlieren. Als Ultima Ratio bleibt noch, Zwangslizenzen einzufordern. Selbst das deutsche Patentgesetz sieht in § 24 entsprechende Maßnahmen vor, sollte öffentliches Interesse bestehen und sollten Dritthersteller vom Patentinhaber keine Zustimmung erhalten. Doch wie sieht die Bundesregierung entsprechende Fragen? Gegenüber DocCheck verwies das Bundesgesundheitsministerium lediglich auf Passagen aus dem Koalitionsvertrag: „Wir werden auch den Pharma-Dialog unter Einbeziehung der Regierungsfraktionen des Deutschen Bundestags fortsetzen.“ Dieses Statement aus dem Ministerium von Jens Spahn könnte unkonkreter nicht sein.