Die ersten digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) haben es in das staatliche DiGA-Verzeichnis geschafft. Spätestens jetzt dürfte den Herstellern dämmern: Die wahren Hürden tauchen erst auf, nachdem man „im System“ angekommen ist. Ein Gastbeitrag aus Ärztesicht von Dr. Dirk Heinrich.
Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung hat errechnet, dass die Verordnungskosten für die ersten 10 verschreibungsfähigen „Apps auf Rezept“ knapp 43 Mrd. Euro in nur einem Jahr ausmachen könnten – vorausgesetzt, alle Patienten mit Indikation erhielten die jeweilige DiGA für vier Quartale verordnet. Das ist vorerst nur ein theoretisches Zahlenspiel. Dennoch zeigt es sehr plakativ eine Bruchlinie auf, die durch das GKV-System verläuft und das Verhältnis zwischen DiGA-herstellern, Ärzten und Kassen belastet.
Zur Erinnerung: Vertragsärzte praktizieren in einem budgetierten System. Zudem tragen sie durch das Wirtschaftlichkeitsgebot (WANZ) die Verantwortung für ihr Verordnungsverhalten. Die Gesamtausgaben sind gedeckelt, unabhängig von der Menge der tatsächlich erbrachten Leistungen. Besonders zu Quartalsende können Vertragsärzte oft nicht mehr alle Leistungen und Therapien verschreiben, die eigentlich notwendig und zweckmäßig wären. Das Budget ist schlicht aufgebraucht. Dazu kommt, dass die eigenen erbrachten Leistungen nur noch abgestaffelt oder gar nicht mehr vergütet werden. Im schlimmsten Fall drohen bei Budgetüberschreitung und exzessiver Verordnung sogar Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regresse.
Und plötzlich gibt es eine neue Art von Therapie mit noch nicht ausreichend belegtem Nutzen, jedoch zum Preis eines ganzen Jahres (und mehr) analoger Arztbehandlung.
Vor diesem Hintergrund fragen sich viele Ärzte, weshalb für DiGA die bekannten WANZ-Kriterien auf einmal nicht gelten sollen. Weshalb Geld der Solidargemeinschaft zweckentfremdet wird: nämlich für die Entwicklung statt für die konkrete Versorgung. Und warum sie durch die Verordnung dieser neuen Therapien ihre ohnehin knappen Budgets zusätzlich belasten und ihr Regressrisiko erhöhen sollen.
Auch die gesetzlichen Krankenkassen scheinen angesichts der ZI-Zahlen stark beunruhigt. Sie setzen alles daran, das bodenlose Loch zu stopfen, das die DiGAs in die Deckel ihrer Budgettöpfe gerissen haben. Politisch drängen die Kassen (vorerst erfolgreich) darauf, die freie Preisfestsetzung der Hersteller abzuschaffen. Gleichzeitig wollen sie sicherheitshalber auch bei den Verordnern sparen, indem sie in den Honorarverhandlungen alle Forderungen, den Mehraufwand z. B. im Patientengespräch zu vergüten, schlicht abschmettern.
Wir fassen zusammen: Ärzte sehen bei DiGAs zuallererst hohe Kosten bei unklarem Nutzen sowie zusätzlichen Aufwand ohne mehr Honorar. Dazu kommen – genährt durch schlechte Erfahrungen mit anderen Digital-Anwendungen – Bedenken hinsichtlich Datenschutz und Datensicherheit der sensiblen Patientendaten. Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung hat z. B. davor gewarnt, DiGAs in den App Stores von Apple und Google anzubieten, da bereits der Download einer App gegen Depression brisante Informationen an die Plattformbetreiber preisgebe und deren Nutzerprofiling um sensible Gesundheitsinformationen ergänze.
Da verwundert es nicht, dass in einer BITKOM-Umfrage Ende 2020 über ein Viertel der befragten Ärzte angab, DiGAs nicht verordnen zu wollen. Über die Hälfte nannte u. a. Datenschutzbedenken als Grund für die Ablehnung.
Gleichzeitig erklärte ein Drittel der Befragten, zu wenig Informationen über DiGAs zu besitzen. Ganze 10 Prozent wussten überhaupt noch nichts mit dem Begriff „DiGA“ anzufangen.
Eine aussichtslose Situation? Keineswegs. Denn grundsätzlich sind Ärzte (technischen) Neuerungen gegenüber aufgeschlossen. Entscheidend ist dabei der Mehrwert. Für Ärzte muss nachvollziehbar und erlebbar sein, wie eine DiGA ihnen bzw. der Patientenbehandlung nutzt. Erst wenn Ärzte wissen, wo dieser Mehrwert liegt und wie hoch er ist, werden sie DiGA verordnen.
DiGA-Hersteller müssen nun also in die kommunikative Offensive gehen. Sie müssen Evidenz für den Nutzen ihrer Anwendungen bringen und darüber in Fachmedien wie Journals, Kammer- und KV-Medien und über die relevanten Berufsverbände informieren.
DiGA können weder Ärzte noch eine strukturierte Anamnese und Behandlung ersetzen, sondern nur ergänzen. Haftung ist dabei ein zentraler Punkt. Für Ärzte ist es von existenzieller Bedeutung zu wissen, wo die Haftungsgrenze zwischen Behandler und Hersteller verläuft. Zudem ist es wichtig, dass sie als unmittelbarer Ansprechpartner im Behandlungsprozess die Kontrolle behalten und ggfs. steuernd eingreifen können.
Darum sollten nicht nur die Patienten als Anwender in die (Weiter-)Entwicklung einbezogen werden, sondern auch die Verordner. Ein Arzt, der erst aufwändig den Umgang mit einer App lernen muss bzw. diese nicht reibungslos in sein PVS und seine Praxisorganisation integrieren kann, wird sie kaum verschreiben.
Was die Vergütung der ärztlichen Zeit anbelangt, müssen Hersteller und Verordner an einem Strang ziehen. Auch in puncto Datenschutz sollte ein Einvernehmen hergestellt werden. Die Daten müssen der Versorgung und nicht dem Profit eines Tech-Konzerns wie Google dienen. Im besten Fall können Daten direkt aus der Anwendungsforschung neue Erkenntnisse zum Behandlungsverlauf ermöglichen.
Mehr Therapieerfolg, höhere Compliance, weniger Betreuungsaufwand – können die DiGA-Hersteller solche Versorgungseffekte nachweisen, dann sagt auch die Ärzteschaft bald geschlossen: Willkommen im System!
Dr. Dirk Heinrich ist Bundesvorsitzender des Virchowbundes und niedergelassener HNO-Arzt.
Der Verband der niedergelassenen Ärzte (Virchowbund) kämpft dafür, die Budgetierung zu beenden, die ärztliche Selbstverwaltung zu stärken und die Freiberuflichkeit zu erhalten. Erfahren Sie hier, was berufspolitische Arbeit für Praxis-Ärzte verändert und warum es sich für Sie lohnt.
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