Es lässt sich nicht schönreden: Der Umgang mit AstraZenecas Impfstoff in Deutschland ist eine kommunikative Katastrophe.
Ein Impfzentrum im nördlichen Baden-Württemberg, Menschen mit hohem Risiko für schwere COVID-19-Verläufe laufen durch die Impfstraßen, stehen am Empfang, checken ein. Plötzlich: Alles vorbei. Keine Impfungen mehr: „Sie müssen wieder nach Hause gehen leider.“ Die impfenden Ärzte: Genauso vor den Kopf geschlagen. „Völlige Unsicherheit! Das nächste Kommunikationsdesaster in dieser Pandemie“, das war nur einer von vielen Ärztekommentaren gestern Nachmittag.
Wer wollte, konnte diese Kommentare überall einsammeln. Beispiel Berlin: Eine große Dialysepraxis sollte am heutigen Dienstag mit AstraZeneca Impfungen starten. 200 Dosen waren geliefert, neben 100 Dialysepatienten sollten 100 weitere Patienten mit hohem Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf geimpft werden – Transplantatträger, chronisch-rheumatische Patienten und viele mehr. Sie hatten Termine, waren oft in persönlichen Telefonaten von den Praxis-Chefs überzeugt worden. Alles umsonst. Alles wieder abbestellt. Nochmal Baden-Württemberg, ein Mitarbeiter aus einem anderen Impfzentrum auf Twitter: „Habt Ihr Lack gesoffen? Wir haben gerade 800 Impfdosen in den Müll werfen müssen. Ich bin fassungslos – ich kann nicht mehr!!!“
Um zu illustrieren, dass der Umgang mit den möglichen UAW des AstraZeneca-Impfstoffs eine kommunikative Katastrophe war, braucht es nicht mehr als diese paar Beispiele. Das hätte nie, niemals so laufen dürfen. Der Bundesgesundheitsminister tritt vor die Presse, erzählt mit Bezugnahme auf das Paul Ehrlich Institut (PEI) von sieben Sinusvenenthrombosen pro 1,6 Millionen Impfungen, sechs davon bei Frauen. Das PEI verschickt eine dünne Mitteilung zu einer möglichen Verbindung mit Thrombopenie und Blutungen, irgendjemand berichtet irgendwo von drei Verstorbenen, während sich WHO und European Medicines Agency (EMA) fast zeitgleich zu Wort melden und zu Protokoll geben, dass bitte weitergeimpft werden sollte. Im Falle der EMA war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass spätestens am Donnerstag dieser Woche eine neue Bewertung bekanntgegeben wird.
Am Donnerstag. Drei Tage später. Nicht drei Wochen oder drei Monate. Drei Tage. War es wirklich nötig, bei einer möglichen Komplikation, die sieben Mal bei 1,6 Millionen Impfungen gemeldet wurde, ruckartig die Notbremse zu ziehen? War es wirklich nötig, einer nationalen Behörde mehr Gehör zu schenken als der internationalen Behörde, die genau für solche Fragen zuständig ist? Nichts gelernt aus dem Desaster des ohne jede Not und ebenfalls unter Brüskierung der EMA gefassten STIKO-Beschlusses, den AstraZeneca-Impfstoff zunächst auf unter 65-jährige zu beschränken?
Jede vorsichtige Haltung der Welt lässt sich irgendwie rechtfertigen. Und selbstverständlich müssen Meldungen über Impfstoff-UAW ernstgenommen werden. Sinusvenenthrombosen sind keine normalen Thrombosen. Die Verbindung mit der Thrombopenie legt ein arzneimittelinduziertes Thrombopeniesyndrom zumindest nahe. All das musste sich die Öffentlichkeit seit gestern aber selbst zusammensuchen. Diese Krisenkommunikation war nicht „alternativlos“, sie war eine Katastrophe.
Nicht nur die Kommunikation, auch der Umgang mit den UAW-Meldungen ist nicht „alternativlos“. Es gibt ein Kontinuum der regulatorischen Möglichkeiten. Der Impfstoff von AstraZeneca wurde in der EU über 5 Millionen Mal und in Großbritannien letzten Meldungen zufolge mehr als 10 Millionen Mal verimpft. Es gibt hier wie dort keinen Hinweis für vermehrte Thrombosen aller Art. Das ist anders als etwa bei einigen oralen Kontrazeptiva, bei denen es keinen Zweifel an einem erhöhten Thromboserisiko gibt – und die dennoch vertrieben werden dürfen.
Bei den Sinusvenenthrombosen, um die es aktuell geht, ist es ein bisschen anders. Da wird jetzt genauer geschaut, muss genauer geschaut werden. Aber auch hier haben die Briten bereits angedeutet, dass sie das, was die Deutschen gesehen haben wollen, so in ihren Daten nicht sehen: In der offiziellen Dokumentation sind es 4 SVT bei rund 10 Millionen Impfungen. Das ist mehr als bei BionTech, wo es nur 1 pro rund 10 Millionen Impfungen ist. Aber es ist weit weniger als das, was das PEI jetzt beschrieben hat.
Warum also sofort der Holzhammer? Weil es innerhalb weniger Tage mehrfach auftrat? Hat es dann vielleicht doch mit den Impfstoff-Chargen zu tun? Oder liegt der Unterschied zwischen UK und Deutschland an den unterschiedlichen Produktionsorten des Impfstoffs? Gibt es irgendwelche Unterschiede bei den Inhaltsstoffen der Impfstoffe, die in Belgien bzw. in Großbritannien produziert werden?
Das könnte einen plötzlichen Stopp rechtfertigen, aber dann sollte das auch entsprechend kommuniziert werden. Wird das versäumt, produziert eine vermeintlich vertrauensbildende Maßnahme riesiges Misstrauen. Also: Warum wird angesichts der zumindest unklaren Datenlage nicht vollumfänglich informiert? Warum wird dem mündigen Bürger, der mündigen Bürgerin nicht vielleicht sogar zugetraut, selbst zu entscheiden, ob er oder sie bis zur Klärung das möglicherweise vorhandene Risiko eingehen will?
Eins darf in dieser ganzen Diskussion nicht vergessen werden: Wir reden nicht über eine Impfung gegen Windpocken im Kindesalter, wir reden nicht über eine FSME-Impfung, die darauf abzielt, 500 Infektionen im Jahr zu verhindern. Wir reden über eine Pandemie, an der in Europa immer noch pro Tag 4.000 Menschen sterben, und in einigen Wochen wahrscheinlich deutlich mehr. Der Impfstoff von AstraZeneca kann viele Todesfälle verhindern. Das muss in regulatorische und kommunikative Entscheidungen einfließen, solange Risiken nicht verschwiegen, sondern transparent kommuniziert werden – und solange niemand gezwungen wird, sich impfen zu lassen.
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