Das Medizinstudium gilt als prestigereiches, sozial geschlossenes Fach. Wenige Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien schaffen den Sprung. Drei Mediziner erzählen von ihren sehr unterschiedlichen familiären Herkünften und ihrem Weg ins Studium.
Am Anfang steht ein Blick durch den Hörsaal: angestrengte Gesichter, während der Professor vorne durch seine Folien rauscht. Es wird mitgeschrieben, am Kaffeebecher genippt, getuschelt. In ihrem Versuch, der Vorlesung zu folgen und die wichtigsten Fakten aufzuschnappen, sind die Studenten hier alle gleich. Auf dem Weg hierher waren einige jedoch ein bisschen „gleicher“ als andere: bildungsgerecht ist Deutschland nach wie vor nicht. Während 77 % der Akademiker-Kinder, so die Sozialerhebung des Studentenwerks, ein Studium beginnen, sind es unter den Nicht-Akademiker-Kindern gerade einmal 23 %. In unserem Hörsaal hat gerade einmal jeder zwanzigste Medizinstudent eine niedrige Bildungsherkunft, d. h., dass mindestens eines seiner Elternteile ungelernt ist. Zumindest jeder Vierte hat zwei Elternteile mit einer Ausbildung, aber keinen Akademiker unter seinen Eltern. Der große Rest kommt aus Akademiker-Familien.
Der Arztberuf ist nach wie vor einer der angesehensten hierzulande. Glaubt man dem deutschen Beamtenbund, dann schneidet er – hinter den Feuerwehrmännern und Krankenpflegern – auf Platz drei ab. Und gerade für prestigereiche Studienfächer gilt, dass sie weniger Kinder mit einem niedrigeren Bildungshintergrund studieren. Dr. Christina Möller, Soziologin an von der Universität Paderborn, die sich mit Selektionsmechanismen im Bildungssystem auseinandersetzt, nennt diese Fächer „sozial geschlossene Fächer“. Dass Kinder aus bildungsfernen Milieus unterrepräsentiert sind, hat laut Möller verschiedene Gründe. Am schwersten aber wiege, dass „in Ärzte- oder auch Juristenfamilien das existierende Wissen aber auch die sozialen Gepflogenheiten quasi vererbt werden. Dadurch kommt es zu einer sozialen Reproduktion.“ Neben Familien, in denen die Praxis vererbt wird, in denen die Karriere des Kindes von den Ärzte-Eltern minutiös geplant und gefördert wird, läuft soziale Reproduktion meist unbemerkt ab, und ist weder Eltern noch Kindern zwangsläufig bewusst.
Kristin H. studiert Medizin an der Uni Leipzig. Sie erinnert sich: „Bis ich sechszehn war haben mich nur meine Eltern behandelt, einen eigenen Arzt hatte ich nicht. Spritzen gab es dann schon mal in der Küche“. Ihre Eltern sind Allgemeinmediziner. Zusammen haben sie eine Praxis auf dem Land, an der Grenze von Brandenburg und Sachsen. Die Medizin sei omnipräsent gewesen in ihrem Elternhaus. „Meine Eltern sind Unternehmer. Die Arbeit hört nicht an der Haustür auf.“ Gleichsam sprühen Kristins Eltern in ihren Erzählungen vor Elan, voller Herzblut scheinen sie sich ihren Patienten zu widmen. „Heute würde ich schon sagen, dass mich das beeinflusst hat“, sagt Kristin, „dabei haben mich eigentlich Sprachen, Kunst und Design immer mehr interessiert.“ Nach dem Abitur fiel die Entscheidung dann doch auf die Medizin. Die Entscheidung fiel auch deshalb, weil die Hobbys nicht zum Beruf werden sollten. „Meine Eltern hätten mich aber auch unterstützt, wenn ich Theaterwissenschaften studiert hätte.“
Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die sich für ein Studium entscheiden, „Aufsteiger“-Kinder, wählen oft andere Fächer als die Medizin. Männer landen klassischerweise in den Ingenieurswissenschaften und Frauen im Lehramt. An Fachhochschulen haben jeweils über 60 % der Studierenden in diesen Fächern keinen akademischen Hintergrund. Christof S. ist seit kurzem Assistenzarzt in Chemnitz. Während seine Großeltern noch aus sehr bescheidenen Verhältnissen kamen, konnte sein Vater bereits studieren. Nach einer Ausbildung studierte er – wie für einen Aufsteiger typisch - Lehramt. Christof hatte nie vor, Medizin zu studieren, eigentlich wollte er immer Sozialarbeiter oder Schauspieler werden. Erst sein Zivildienst im Krankenhaus entfachte seine Begeisterung für die Medizin. Ihm gefiel die interdisziplinäre Arbeit, das Miteinander der vielen Berufsgruppen. Zu seiner Zulassung sagt er: „Meine Eltern waren sehr glücklich, als ich einen Studienplatz bekam.“ Zu Beginn hatte Christoph großen Respekt vor dem Studium, aber der wich bald einem großen Interesse für die Inhalte. Inzwischen studiert auch Christofs Schwester Medizin. Auf die Frage, ob aus der Familie nun eine Ärzte-Familie werde, muss Christof lachen. Aber „Nein“ sagt er eben auch nicht.
Dass Kinder aus bildungsfernen Milieus in Deutschland so selten Medizin studieren, ist vermutlich auf einen gesellschaftlichen Mechanismus zurückzuführen, den der Soziologie Pierre Bourdieu „symbolische Gewalt“ nannte. Den sozialisatorischen Vorsprung, den das Aufwachsen in einem bildungs- und kapitalstarken Elternhaus, z. B. in einer Medizinerfamilie, bedeutet, können Kinder aus bildungs- und kapitalarmen Familien kaum aufholen. „Dieser Vorsprung wird jedoch in unserer Gesellschaft selten auf die Herkunft und auf soziale Mechanismen zurückgeführt, sondern allein auf ‚Leistung‘“, erläutert Möller. Folge sei die Unterwerfung unterer Gesellschaftsschichten an herrschende Auswahlmaßstäbe oder – in Bourdieus Worten – ein „stillschweigendes Akzeptieren der Stellung, ein[en] Sinn für Grenzen.“ Die Herrschaftsverhältnisse in unserer Gesellschaft werden damit internalisiert und ihre Mechanismen gleichsam verschleiert.
Als Kind einer ungelernten Mutter und eines Elektronikers wuchs Sophie (Name geändert) im Norden Hamburgs auf. Von den Lehrern – zu Unrecht, wie sie sagt – als Legasthenikerin abgestempelt, landete sie nach der Grundschule auf der Realschule. Dabei freundete sie sich nie so recht mit der Schule an: „Mein Vater war ein Schulphobiker und meine Mutter hatte überhaupt keine stringente Schulkarriere. Meinen Eltern war es ehrlich gesagt egal, ob ich meine Hausaufgaben mache.“ Trotzdem wollte sie schon damals Ärztin werden, wechselte von der Realschule aufs Gymnasium und machte ein sehr gutes Abitur. Es folgte ein Jahr, in dem sie jobbte und nicht zur Uni ging. „Ich hatte das Gefühl, überhaupt keine Ahnung zu haben, wie Studieren funktioniert. Ich hatte das Gefühl, anders zu sein als die anderen.“ Sophies damaliger Freund drängte sie förmlich dazu, sich zu bewerben. Heute sagt sie, bleibe nicht mehr das Gefühl, sich zu unterscheiden. Sophie ist eine der 5 % Prozent im Hörsaal, die es trotz niedriger Bildungsherkunft geschafft haben, einen Medizinstudienplatz zu bekommen. Sie bleibt dabei eine Ausnahme. Viele andere, die aus ähnlichen Verhältnissen wie Sophie kommen, schaffen es nicht, über das Gefühl hinweg zu gehen, in dieser fremden Welt nicht bestehen zu können. Ihnen suggeriert unsere Gesellschaft eine Grenze. Sie fügen sich und haben nicht die Unterstützung, diese Grenze zu überwinden.
Die meisten Kinder mit niedriger Bildungsherkunft fallen dabei schon früher zurück. Dass es „kaum Anregungen aus dem Elternhaus gibt“, wie Möller es beschreibt und Sophie es erfahren hat, wirkt sich auf die Schulnoten aus. Die OECD kritisierte auch im letzten Jahr, dass der Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Schulleistungen in Deutschland noch immer sehr stark ausgeprägt sei. Beispielsweise durch frühkindliche Bildung und Betreuung, schreibt die OECD, könne diesem Zusammenhang zugunsten der schlechter gestellten Kinder zu Leibe gerückt werden – das aber geschieht hierzulande noch nicht ausreichend. Während also die Schulnoten in Deutschland nach wie vor stark von der Bildungsherkunft abhängen, wird der Numerus Clausus für einen Medizinstudienplatz immer strenger: Die Anzahl der Bewerber auf einen Medizinstudienplatz stieg in den letzten zehn Jahren von dreieinhalb auf fast fünf. Auch das leistet der sozialen Geschlossenheit des Medizinstudiums Vorschub.