Mit dem digitalen EU-Impfzertifikat soll das Reisen im Sommer unter gewissen Bedingungen wieder möglich sein. Klingt verlockend? Ja. Und regt mich maßlos auf.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will es Bürgern wieder ermöglichen ab dem Sommer zu verreisen, falls sie bereits geimpft worden sind. Dafür soll EU-weit das „Digitale Grüne Zertifikat“ als Nachweis eingeführt werden – mit Anerkennung durch alle Staaten der Union. Auch PCR- oder Antigen-Tests lassen sich laut Planung hinterlegen. Sogar Öffnungsmaßnahmen könnte man mit der Technologie steuern, hofft von der Leyen.
Um den Impfstatus zu kontrollieren, ist für Dienstleister, etwa Ärzte oder Mitarbeiter beim Zoll, eine spezielle Prüf-App vorgesehen. Analoge Impfpässe gelten weiterhin; das digitale Angebot ist freiwillig. Und für Menschen ohne Smartphone soll es Ausdrucke geben. Doch gut gemeint ist bekanntlich nicht automatisch gut. Was mich an der Strategie besonders stört, habe ich hier für euch zusammengefasst.
Der Wunsch, wieder zu verreisen, ist nachvollziehbar. Für mich wirft der europäische Freifahrtschein aber etliche Fragen auf. Beispielsweise soll das Zertifikat für Patienten, die COVID-19 überstanden haben, 180 Tage lang gelten. Eine populationsbasierte Studie aus Dänemark hat aber gezeigt, dass dies auf ältere Menschen so nicht zutrifft. Untersucht wurden Daten aus der ersten und der zweiten Pandemiewelle. „Während eine frühere Infektion bei Personen unter 65 Jahren einen Schutz von etwa 80 Prozent gegen eine Reinfektion bot, waren es bei Personen ab 65 Jahren nur 47 Prozent, was darauf hindeutet, dass sie sich mit größerer Wahrscheinlichkeit erneut mit COVID-19 infizieren werden“, schreiben die Autoren.
Ähnlich problematisch ist es bei Impfungen. Wie lange die Vakzine schützen, ist derzeit unbekannt. Derzeit ist kein Ablaufdatum für die Impfzertifikate angegeben.
Auch die geplante Umsetzung überrascht. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat in gewohnter Übereifrigkeit längst Aufträge vergeben. Am Konsortium unter Federführung von IBM sind auch das Kölner IT-Unternehmen Ubirch, die IT-Firma Bechtle aus Neckarsulm und die Technologiegenossenschaft Govdigital beteiligt.
Auf den ersten Blick wirkt das Projekt mit dem Volumen von drei Millionen Euro zwar überschaubar. In drei Monaten soll das System live gehen, was auch eher im Bereich des Möglichen liegt. Doch der Schein trügt: Wie Business Insidernämlich berichtet, erhalten Firmen mit jedem Zertifikat, das erstellt wird, 50 Cent als Obolus. Bei einer hypothetischen Impfquote von 80 Prozent, sprich 65 Millionen Menschen bundesweit, wären das zusätzlich 32,5 Millionen Euro. Gerade in Zeiten knapper Haushalte könnte man das Geld in meinen Augen sinnvoller investieren.
Um den grünen Impfpass als Erfolg zu verkaufen, erwähnen Politiker gern Israel als Vorbild. Bürger dürfen unter anderem Fitnessstudios, Hotels, Theater oder Sportereignisse besuchen, wenn sie das Zertifikat vorweisen. Doch der Vergleich hinkt. In Israel liegt die Impfquote bei rund 60 Prozent, und das in gerade einmal etwa drei Monaten. Große Engpässe scheint es dort nicht zu geben. Das sieht hierzulande anders aus.
Deutschland liegt derzeit bei 9 Prozent (mindestens eine Impfung) beziehungsweise 4 Prozent (Erst- und Zweitimpfung) weit abgeschlagen zurück. Viele Bürger wollen sich zwar impfen lassen, erhalten aber bei niedriger Priorisierung derzeit kein Vakzin. Was sollen da Ausnahmeregelungen per Smartphone bringen, wenn nicht alle eine realistische Chance auf eine Impfung haben? Man darf gespannt auf die gerichtliche Überprüfung sein. Denn diese wird in Deutschland sicherlich kommen, gestritten wird bei uns schließlich gerne.
Da mag es wenig trösten, dass Hausärzte und Fachärzte direkt nach Ostern endlich mit Vakzinen beliefert werden sollen, um in die Impfkampagne einzusteigen. Bei Spitzengesprächen am 19. März 2021 bekräftigte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr vollmundiges Versprechen, jedem Bürger bis Ende des Sommers ein Impfangebot zu machen. Und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat ausgerechnet, dass 50.000 Arztpraxen pro Tag jeweils 20 Impfstoffdosen verabreichen könnten. In Summe sind das bis zu fünf Millionen Dosen pro Woche. Anfang August erscheint auch der KBV als realistisches Ziel für Durchimpfungen. Die Zahlenspiele haben allerdings einen Schönheitsfehler. Sie setzen voraus, dass Hersteller ausreichende Mengen an Vakzinen liefen. Aber genau hier liegt unser Problem, eine Liefergarantie von Zulieferern zu bekommen, ist noch immer schwierig.
Apropos niedergelassene Kollegen: Sobald Haus- und Fachärzte impfen, benötigen sie neue Module als Teil ihrer Praxissoftware, um ebenfalls Zertifikate zu erzeugen. Was bei 412 Impfzentren noch klappen mag, wird bei 55.000 Praxen schnell kompliziert. Die zeitnahe Aktualisierung aller Systeme ist mehr als fraglich.
Am meisten stört mich aber, dass de facto eine Impfpflicht geschaffen wird, ohne dass es die geringsten gesetzlichen Grundlagen dafür gibt. Wer reisen möchte, wer in Restaurants gehen will, wer Kinos, Theater, Konzerte, Fußball-Tourniere oder sonstige Events besuchen möchte, braucht möglicherweise ein Impfzertifikat.
Die Regierung delegiert Verantwortung an große Firmen oder kleine Freiberufler ab. Sie scheut sich, dieser kontroversen Frage ins Auge zu sehen. Man mag für oder gegen eine Impfpflicht sein. Diese einfach einzuschleichen, um im Wahljahr Zoff zu vermeiden, ist meiner Meinung einfach schlechter Stil.
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