Hielten Ärzte die Fibromyalgie in den 1990ern noch für weitgehend psychisch bedingt, finden heute immer mehr Studien körperliche Korrelate. Was die umstrittene Erkrankung verursacht, bleibt jedoch nach wie vor unklar.
Fibromyalgie-Patienten fühlen sich meistens gekränkt, wenn sie auf mögliche psychische Ursachen angesprochen werden. Auch die Deutsche Fibromyalgie-Vereinigung e.V. (DFV) schreibt auf ihrer Website: „Das Fibromyalgie-Syndrom ist nicht psychisch bedingt“. Das Syndrom gehört zu den Krankheiten des Muskel- und Skelettsystems bzw. des Weichteilgewebes und wird in der ICD-10 mit „M79.70“ kodiert. Dennoch ist das Fibromyalgiesyndrom (FMS), unter dem etwa 1 bis 3 % der deutschen Bevölkerung leiden (AWMF-Leitlinie), vom Beschwerdebild in einigen Punkten verwandt mit der somatoformen Schmerzstörung (F45.4). Die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. schreibt auf ihrer Website: „Die ‚anhaltende somatoforme Schmerzstörung‘ ist durch andauernde quälende Schmerzen über mehrere Monate gekennzeichnet, für die keine körperliche Ursache gefunden werden kann, welche die Beschwerden erklären würde.“
Beim Fibromyalgiesyndrom bestehen Schmerzen in Muskeln, Bändern, Knochen und Sehnen und zwar in allen vier Körperquadranten und entlang der Wirbelsäule. Obwohl Blutuntersuchungen unauffällig sind, lassen sich Veränderungen feststellen [Paywall], z. B. eine erhöhte Konzentration der Substanz P in den freien Nervenendigungen der Muskeln, erniedrigte Carnitin-Konzentrationen in der Muskulatur sowie ein veränderter Serotoninstoffwechsel. Wissenschaftler um Nurcan Üçeyler, Uni Würzburg, wiesen 2013 in einer Studie nach, dass bei der Fibromyalgie kleine Nervenfasern geschädigt sind.
Die Fibromyalgie wird unter anderem mithilfe der Kriterien des American College of Rheumatology (ACR) diagnostiziert. Die ACR-Kriterien von 1990 besagten, dass 11 von 18 „Tender points“ am Körper auf Druck schmerzhaft sein müssten, um die Diagnose „Fibromyalgie“ stellen zu können. Nach den ACR-Kriterien von 2010 entfällt dieser Aspekt. Heute gilt: Liegt der Widespread Pain Index (WPI) bei ≥ 7 und der Symptomschwere-Score (Symptom Severity Score, SS) bei ≥ 5 oder liegt der WPI bei 3 – 6 und der SS bei ≥ 9 ist dies ein erfülltes Diagnosekriterium für Fibromyalgie. Die Schmerzen müssen darüber hinaus seit mindestens drei Monaten bestehen und sind ansonsten medizinisch nicht erklärbar. Die Fibromyalgie zeichnet sich nicht nur durch Schmerzen, sondern auch durch verschiedene vegetative Symptome aus, die sich bis heute nur schwer in ihrem Zusammenhang erklären lassen.
Chronische Fatigue, Reizdarmsyndrom, chronische Kopfschmerzen, Juckreiz, Blasen- und Beckenschmerzen sind nur wenige von vielen Beschwerden, die mit der Fibromyalgie verflochten sind. In der Abteilung für Fibromyalgie und Chronische Fatigue der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota (USA), erforschen Wissenschaftler das „Zentrale Sensibilisierungssyndrom“, unter dem anscheinend auch viele Fibromyalgie-Betroffene leiden. Darunter versteht man eine Reihe von vagen, aber unangenehmen Beschwerden, die zeitgleich auftreten, wie z. B. Mundtrockenheit, Kieferschmerzen, Schlafstörungen, Morbus Menière oder das Sick Building Syndrome. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass beim Zentralen Sensibilisierungssyndrom das viszerale und zentrale Nervensystem überempfindlich reagieren, sodass bereits kleinste Reize zu starken Empfindungen führen. Kevin C. Fleming und Mary M. Volchek beschreiben in einem Beitrag im April 2015, worauf der Arzt achten sollte, um auf das Zentrale Sensibilisierungssyndrom aufmerksam zu werden und unnötige Tests und Diagnose-Odysseen zu vermeiden. Denn es sind vor allem die vielen Untersuchungen, die die Fibromyalgie so teuer machen: Pro Jahr entstehen bei einem Patienten je nach Schwere der Erkrankung Kosten von 5.000 bis 9.000 US-Dollar, schreiben Fleming und Volchek.
Auch darüber, ob das CWP-Syndrom und die Fibromyalgie zwei verschiedene Paar Schuhe sind, wird diskutiert. Arzu Yagiz On und Kollegen der Ege-Universität, Izmir (Türkei), halten eine Unterscheidung von Fibromyalgiesyndrom (FMS) und CWP für nicht sinnvoll. In ihrer aktuellen Studie [Paywall] mit 284 Patienten wandten sie die ACR-Diagnosekriterien von 1990 und 2010 an. 65 % der Patienten erfüllten dabei die 1990er Kriterien und 94 % die Kriterien von 2010. Den Ergebnissen zufolge liege die FMS auf einem Kontinuitätsstrahl des CWP. Die Autoren sind der Meinung, dass FMS keine eigenständige diagnostische Entität bildet. Die Abgrenzung zum CWP sei auch deswegen nicht sinnvoll, da die multimodale Behandlung von FMS und CWP weitgehend identisch sei. Sowohl Patienten mit CWP als auch mit FMS leiden unter Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit, wodurch häufig eine Verbindung zwischen dem Chronic Fatigue Syndrom und der FMS gesehen wird. John McBeth und Kollegen (Januar 2015) [Paywall] der Keele University, Staffordshire (UK), stellten sich die Frage, ob der fehlende Schlaf zur Entwicklung eines CWP führt oder ob die Patienten durch die Schmerzen wach werden. Sie kamen zu einem eindeutigen Sowohl-als-auch-Ergebnis: Schlechter Schlaf kann die CWP-Entstehung fördern und CWP unterbricht den Schlaf.
Edgar Adams und Kollegen (Covance Market Access Services Inc., Gaithersburg, Maryland, USA) fanden in ihrer Studie [Paywall] heraus, dass das FMS ein extremer Eckpunkt des CWP sein könnte. Sie konnten die Daten von 125 Patienten ohne CWP, 176 Patienten mit CWP und 171 Patienten mit FMS auswerten. Es zeigte sich, dass der Body Mass Index (BMI) zunehmend anstieg und zwar von CWP-negativen Teilnehmern mit einem BMI von 28,8 über CWP-positive Teilnehmer (BMI 30,7) bis hin zu FMS-Patienten, die einen BMI von 32,1 aufwiesen. Auf der Kontinuitätsskala von negativem CWP bis hin zum FMS fanden sich Steigerungen in der Intensität von Migräne und anderen Kopfschmerzen, von Gelenkbeschwerden und des Reizdamsyndroms (p < 0,003 bei allen Vergleichen). Auch psychische Störungen wie Angststörungen und Depressionen kamen in ansteigendem Ausmaß vor (jeweils p < 0,0001). Ebenso litten die Patienten mit FMS deutlich stärker unter Schmerzen und Funktionseinschränkungen als Patienten mit CWP. Während nur 32,8 % der CWP-negativen Patienten Medikamente einnahmen, verwendeten 52,8 % der CWP-positiven Patienten Medikamente. Bei den Fibromyalgie-Patienten waren es 62,6 % (p jeweils < 0,0001). Am häufigsten wurden Opioide genannt. Eines wird klar: Beim Symptomkiosk Fibromyalgie gibt es noch viel zu erforschen. Gerade die Komplexität von Schmerzen, vegetativen und psychischen Symptomen ist eine Herausforderung. Beteiligt sind unter anderem Hormone, das Immunsystem, Nerven- und Muskelgewebe, der Schlaf und auch die Psyche. Auf einfachere Antworten, erhellende Bindeglieder oder die Studie, die alles erklären könnte, warten die Betroffenen sehnlich – vielleicht auch ewig.