Sollen Menschen mit „Spreader-Profil“ wie hochmobile Arbeitnehmer zuerst geimpft werden? Das schlagen manche Experten vor, die eine Priorisierung nach Alters- und Risikogruppen für überholt halten. Epidemiologe Klaus Stöhr widerspricht.
Den Stufenplan der STIKO zur Priorisierung der COVID-19-Impfung kennen wir alle. Auch die jetzt mitimpfenden Hausärzte sind weitgehend an die Priorisierung gebunden. Aber ist der Stufenplan noch zeitgemäß? Sollten die Stufen flexibilisiert werden, oder mehr noch: Sollte „mathematisch“ geimpft werden, also da, wo am meisten übertragen wird?
Spätestens wenn die stark durch COVID-19 gefährdeten Impfgruppen 80+ und 70+ durchgeimpft sind, könnte sich diese Frage mit mehr Dringlichkeit stellen.
Denkbar wäre beispielsweise eine Impf-Strategie, bei der es darum geht, diejenigen vorrangig zu impfen, die dem größten Infektionsrisiko ausgesetzt sind und die bei der Ausbreitung von SARS-CoV-2 eine große Rolle spielen. In diese Kategorie fallen hoch mobile Arbeitnehmer, bestimmte Berufsgruppen mit viel Personenkontakt, Grenzregionsbewohner oder bestimmte soziale Milieus.
Dieter Cassel und Volker Ulrich sprechen in diesem Zusammehang von „epidemischer Relevanz“. Die beiden Gesundheitsökonomen sind der Ansicht, bei der Impfpriorisierung von STIKO und BMG handle es sich um eine „verkehrte Logik“, wie sie gegenüber dem Tagesspiegel erklären. Nach Altersgruppen und individuellem Risiko zu reihen, biete sich an, wenn man genügend Zeit habe, nicht aber inmitten einer Pandemie. „Ich halte das nicht für praktikabel in einer Corona-Welle, die nicht abflachen will.” Sein Vorschlag: Es dürfe „nicht darum gehen, wer im Fall einer Ansteckung besonders gefährdet wäre, sondern wer an vorderster Front steht und dort auch noch viele andere anstecken kann”, so Cassel.
Auf den sozialen Aspekt konzentrieren sich Wrigley-Field et al. in einer aktuellen Veröffentlichung. Sie argumentieren interessanterweise nicht nur nach Modellierungen, sondern auch mit der Impfgerechtigkeit. In ihrem Preprint fordern sie ganz explizit mehr „soziale“ Gerechtigkeit beim Impfen – in dem konkreten Fall für alle ethnischen Gruppen: „Eine geografisch ausgerichtete COVID-19-Impf-Strategie ist gerechter als eine, die alleinig auf Altersgrenzen basiert“, so die Argumentation.
Im Kleinen findet ein gezielt geografisches Vorgehen bereits teilweise statt. So werden in Berlin über Ostern die Lehrer geimpft. Für die Grenzgebiete Richtung Tschechien gab es Sonder-Dosen. Ein Fokus auf Regionen mit Varianten-Clustern wäre ebenfalls denkbar. Viele Freunde hat ein "epidemiologische Impfen" hier zu Lande bisher aber noch nicht.
„Ich halte es für falsch, von der Prio-Liste abzuweichen“, sagt Dr. Klaus Stöhr im Gespräch mit DocCheck. Der ehemalige Direktor des Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganistion WHO ist Mitglied der Arbeitsgruppe CoronaStrategie, die zur Bekämpfung der Coronapandemie ins Leben gerufen wurde. „Solange kein Impfstoff liegen bleibt, soll nach dem Stufenplan geimpft werden. Die Realität sieht nur manchmal etwas anders aus als die Theorie. Wenn abends Impfstoffe liegen bleiben oder sich nicht genügend Impflinge finden, dann ist jenes Prozedere das richtige, bei dem man erreicht, dass der Impfstoff zum Impfling kommt – doch auch hier gilt es, bei mehreren in Frage kommenden Anwärtern die Reihenfolge einzuhalten“, so Stöhr.
Zwar könne man auch statt der gesundheitlichen Priorität den Faktor der Krankheitsweiterverbreitung wählen. Doch das hält Stöhr für kontraproduktiv: „Hier liegen zum einen nicht die gesicherten Daten dazu vor, wer die wichtigsten Krankheitsverbreiter wirklich sind. Klar, man spricht dann von Familie, Freundeskreis oder Arbeit. Nehmen wir Nummer drei: Da reden wir von 45 Mio. Berufstätigen. Das geht an der Realität vorbei.“
Im Gegensatz dazu lasse sich mit dem bestehenden Impfplan folgende Rechnung aufstellen: „89 % der Todesfälle werden vermieden durch das Impfen der Menschen im Alter von 70 und darüber.“ Damit gelinge es, die Krankenhäuser zu entlasten. „Was würde passieren, wenn es keine Impfung gäbe und wir alleinig auf die natürliche Immunisierung angewiesen wären? Dann würden bei den +80-Jährigen 1 pro 8 Infizierten sterben. Bei den 50-Jährigen wäre es 1 pro 3.000. Nun haben wir aber zum Glück Impfstoffe. Man braucht bei den Alten nur 8.000 zu impfen, um 1.000 Todesfälle zu verhindern. Bei den Jüngeren braucht es 3 Millionen“, rechnet der Experte vor. „Die Pandemie wird nicht schneller vorbeigehen, wenn wir die hauptsächlicihen Verbreiter zuerst impfen, aber mit noch größerem gesundheitlichen Schaden enden.“
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