Menschen unter 60 sollen das AstraZeneca-Vakzin nicht mehr erhalten, so die neue Empfehlung. Wer den Impfstoff trotzdem haben will, soll mit dem Arzt sprechen. Das stellt Ärzte vor die große Frage: Was sag ich meinen Impflingen?
Der Impfstoff von AstraZeneca geht in Rente. Aufgrund der Häufung von Sinusvenenthrombosen nach Corona-Impfungen verkündete die Ständige Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts gestern ihre neue Empfehlung: Der Einsatz des AstraZeneca-Impfstoffs, inzwischen auch Vaxzevria genannt, wird nun nur noch für Menschen ab 60 Jahren empfohlen. Dabei soll aber eine freiwillige Impfung nach entsprechender Aufklärung möglich bleiben. Die offizielle Version der neuen STIKO-Empfehlung liegt noch nicht vor.
Zuvor gab es schon Expertenüberlegungen dazu, das Vakzin von AstraZeneca bei Frauen unter 60 Jahren auszusetzen (wir berichteten). Der Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen entschloss sich am Montag dazu, Impfungen bei Frauen unter 55 zu stoppen. Auch die Charité Berlin sprach sich gestern für einen Impf-Stopp bei Frauen unter 55 Jahren aus. Der Druck auf die STIKO, auf die Situation zu reagieren, war dementsprechend groß. Eine Überraschung mag für manche sein, dass der empfohlene Impfstopp nicht nur für jüngere Frauen, sondern auch für jüngere Männer gilt.
Mittlerweile listet das Paul-Ehrlich-Institut 31 Fälle von Sinusvenenthrombosen, die nach einer Impfung mit dem Vakzin von AstraZeneca auftraten.
In 19 dieser Fälle wurde laut Paul-Ehrlich-Institut außerdem eine zusätzliche Thrombozytopenie nachgewiesen. In neun Fällen gab es einen tödlichen Ausgang. Von den 31 Fällen betrafen 29 Frauen im Alter von 20 bis 63 Jahren. Die zwei betroffenen Männer waren 36 und 57 Jahre alt.
Als möglicher Mechanismus wird eine Autoimmunreaktion vermutet, bei der sich als Folge der Impfung Antikörper gegen den Plättchenfaktor PF4 bilden. Ein ähnlicher Mechanismus liegt auch der Heparin-induzierten Thrombopenie Typ II zugrunde. Ob die Anti-PF4-Autoantikörper antivirale Antikörper sind, die kreuzreagieren, oder ob es sich um eine Folge der Entzündungsreaktion handelt, ist unklar.
Wie reagiert die Fachwelt? „Meine Gedanken zu Astra Zeneca: Die aktuelle Entscheidung, den Impfstoff AZ nicht mehr an Personen <60 zu verimpfen, ist richtig und wichtig“, sagt Virologin Sandra Ciesek. „Wir müssen das Krankheitsbild des ‚HIT Mimikry‘ erst besser verstehen. Welche zusätzlichen Faktoren führen dazu? Wie ist der Mechanismus?“
Für die jüngst getroffene Entscheidung finden sich nicht nur Befürworter. „Das Chaos hat schon beinahe humoristischen Charakter“, sagt etwa der Kölner Impfarzt Jürgen Zastrow: „Ich würde weiterimpfen. […] Wenn ich den Nachweis geführt bekomme, dass die Probleme ursächlich mit dem Impfstoff Astrazeneca zusammenhängen, dann bin ich dabei. Ansonsten gilt wie in der Rechtsprechung die Unschuldsvermutung so lange, bis die Schuld nachgewiesen wurde.“
Währenddessen wundert sich der Rest der Welt: Was ist bei den Deutschen anders? Aus den aktuellsten Ergebnissen der US-Phase-III-Studie ging kein erhöhtes Risiko für Blutgerinnsel jeglicher Art hervor. Etwa 20 Prozent der über 32.000 untersuchten Studienteilnehmer waren 65 oder älter, dementsprechend fiel der Großteil der Geimpften also in die Kategorie der Unter-65-Jährigen. Die Studie war jedoch natürlich nicht groß genug, um sehr seltene UAW zuverlässig zu erkennen. Allerdings: Auch in Großbritannien, wo viele Millionen Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs verimpft wurden, gibt es bisher keinen überzeugenden Hinweis auf eine Häufung.
„Sind die Menschen in Deutschland anders oder wurden schwere unerwünschte Ereignisse im Vereinigten Königreich und andernorts unzureichend gemeldet?" fragt etwa Trisha Greenhalgh, Professorin für Primary Care Health Sciences an der University of Oxford.
Wie hoch ist die Gefahr, wenn es sie gibt, genau? Einer RKI-Antwort an den Spiegel zufolge wurden 58 Prozent der 2,7 Millionen verimpften Dosen an Frauen unter 63 Jahren verabreicht. Alle SVT-Fälle wurden bei Frauen unter 60 Jahren festgestellt. In dieser Gruppe ergibt das also eine Inzidenz für SVT von zwischen 1,5 und 2 Frauen pro 100.000. Im Vergleich dazu wird die Inzidenz für SVT in der Normalbevölkerung bei etwa 1 bis 2 pro 100.00 angegeben, mit einem Geschlechtsverhältnis 3:1 (Frauen : Männer). Jede dritte Frau mit SVT verstarb, was eine potenzielle Impf-Letalität bei unter 60-jährigen Frauen von 0,5 bis 0,7 pro 100.000 ergeben würde. Eine eventuelle Dunkelziffer würde die Werte entsprechend etwas erhöhen.
Zuvor gab es die Vermutung, das vermehrte Aufkommen der SVT bei jüngeren Frauen sei darauf zurückzuführen, dass der Impfstoff von AstraZeneca zunächst an Pflege- und Erziehungspersonal verabreicht wurde – das sich zu einem großen Teil aus jüngeren Frauen besteht. „Das scheint nun aber doch nicht so zu sein, weil wir den Impfstoff inzwischen auch bei Älteren einsetzen, wir diese Komplikation aber weiterhin vor allem bei jüngeren Frauen sehen“, sagt Gesundheitsexperte und SPD-Politiker Karl Lauterbach gegenüber der SZ. Auch die von Heparin induzierte Thrombose trete bei jüngeren Frauen häufiger auf. „Die Epidemiologie wie auch die Pathophysiologie des Komplikationsmechanismus weisen darauf hin, dass es tatsächlich Sinn ergeben würde, den Impfstoff bei Jüngeren nicht einzusetzen – weil wir Alternativen haben und sich das Risiko in dieser Altersgruppe bündelt.“
Wie geht es jetzt also weiter? Weiterhin soll es möglich sein, den Impfstoff dennoch zu erhalten, auch wenn man in die jüngere Kategorie fällt. In diesen Fällen sollen Impfwillige sich mit einem Arzt absprechen, heißt es: „Das hat sicherlich was mit der individuellen Einstellung zum Risiko zu tun. Das hat aber auch was damit zu tun, dass man mit einer Ärztin, einem Arzt im Gespräch herausfindet, ob man besondere Risikofaktoren für diese Thrombosen eventuell hat“, so der Berliner Gesundheitsstaatssekretär Martin Matz.
Eher unglücklich formulierte es CSU-Chef Markus Söder gestern Abend: „Wer sich traut, soll auch die Möglichkeit haben.“ Das klingt mehr nach Mutprobe als nach Empfehlung. Und von Weltärztebund-Chef Frank Montgomery gab es für diesen Satz dann auch eine kräftige Ohrfeige.
Eine weitere Frage, die nun im Raum steht, ist die nach der zweiten Impfdosis. Was ist mit den Menschen in Deutschland unter 60, die bereits ihre Erstdosis Astra-Impfstoff erhalten haben? Und wie sagt man es als Arzt den betroffenen Impflingen? Die Verantwortung wird hier vorläufig den Patienten und Ärzten überlassen. Verunsicherung in der Bevölkerung im Hinblick auf den Impfstoff von AstraZeneca ist eine unvermeidbare Konsequenz. Die gestrige Aussage der STIKO wirkt in dem Zusammenhang naiv: „Es kann sein, dass dadurch Vertrauen schwindet“, so Chef Mertens gegenüber der Funke Mediengruppe. Ob er mit „dadurch“ auch die ursprüngliche STIKO-Empfehlung einer Impfung nur an unter 65-Jährige gegen den Rat von EMA und WHO meinte?
„Alle, die bereits eine Dosis AZ erhalten haben und <60 sind, müssen sich nun leider etwas gedulden“, sagt Ciesek. „Was vielleicht klappen kann: nach 1x AZ ein einmaliger Boost mit einer mRNA-Vakzine analog zu einer durchgemachter Infektion. Bei Personen nach COVID gibt es schon erste vielversprechende Daten. Entsprechende Studien (erst AZ, dann mRNA) laufen wohl bereits in Großbritannien.“ Zu dieser Thematik soll bis Ende April eine ergänzende Empfehlung der STIKO folgen. Man warte auf Auswertungen besagter Studien, in denen die Möglichkeit einer Zweitimpfung mit einem mRNA-Impfstoff untersucht wird.
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