Intubieren will keiner, trotzdem müssen wir es. Draußen bekommt von unserem Corona-Horror keiner etwas mit. Ob die beatmeten Patienten jemals wieder aufwachen? Alles ist möglich. Leider.
Bevor ich auf den Intubier-Vorwurf eingehen möchte, komme ich zur größten und gefährlichsten Verharmlosung im Corona-Diskurs überhaupt: Eine Infektion mit dem Coronavirus mit einer normalen Grippe – also einer Infektion mit dem Influenzavirus – zu vergleichen.
Irgendwie lag das ja auch nahe. Die meisten haben Kopfschmerzen, fühlen sich ein bisschen „grippig“ (sic!) und nach ein paar Tagen ist die Krankheit vorbei. Genau diese Leute erzählen das natürlich in ihrer Nachbarschaft und im Freundeskreis und wir nennen sowas einen Survivorship-Bias. Das kann man ruhig mal nachlesen, das ist gar nicht so langweilig.
Vereinfacht gesagt sehen wir meist nur die harmlosen Verläufe. Dass etwa ein Drittel aller Menschen den ersten Herzinfarkt nicht überlebt, sondern sofort stirbt – am sogenannten plötzlichen Herztod – ist vielen nicht präsent. Wir sehen diese Menschen nicht, die sind einfach weg. Diejenigen hingegen, die einen Stent implantiert bekommen oder gar zwei oder drei Herzinfarkte überleben, die können davon erzählen. In unserer Wahrnehmung verliert der Herzinfarkt an Dramatik, das wird schon nicht so schlimm sein, so viele Leute wie ich mit durchgemachtem Herzinfarkt kenne.
Bei Corona ist es ähnlich. Dank zunächst effektiver Eindämmungsmaßnahmen hatten wir noch bis letztes Jahr im Oktober sehr niedrige Infektionszahlen. Es erkrankten sehr wenige und die meisten hatten einen harmlosen Verlauf. Die mit einem schweren Verlauf kamen in die Klinik und da durfte niemand hin.
Corona fand zum größten Teil in der Klinik statt, hinter einem Sicherheitsdienst, hinter Schleusen und abgeriegelt auf Hochsicherheits-Infektionsstationen. Außer Einschränkungen des öffentlichen Lebens haben die meisten Menschen im Alltag nichts von Corona gemerkt. Bilder wie aus Bergamo in Italien blieben bei uns zum Glück aus, führten aber auch bei manchen zu einem sehr leichtfertigen Umgang mit der Ansteckungsgefahr.
Zu Beginn merkt man meist nichts von der Infektion. Ein Coronavirus schleicht sich fast unmerklich in den Körper. Es tut nicht weh, es brennt nicht, man kann Coronaviren mit dem bloßen Auge nicht sehen und leider auch nicht riechen.
Das Bild einer COVID-Infektion ist dabei wie ein Chamäleon. Wir haben eine 90-jährige Patientin, die eine schwere Infektion überlebt hat, aber wir haben auch den 42-jährigen, bisher komplett gesunden jungen Mann, dem im kompletten Lungenversagen eine ECMO eingebaut werden musste. Keine Vorerkrankungen, keine Dauermedikation, 200 km Fahrrad die Woche und wahrscheinlich sehr viel fitter als die meisten Mitmenschen. Beides sehr seltene Verläufe, aber genau das ist ein Teil davon, warum COVID-19 so tückisch ist.
Selbst mit mehreren Risikofaktoren muss es nicht zwingend zu einem schweren oder fatalen Verlauf kommen. Wir können nicht vorher sagen, wen es trifft und wen nicht. Noch schlimmer – selbst wenn sich der Allgemeinzustand erstmal bessert, können wir noch nicht mal mit Sicherheit sagen, ob die Krankheit überstanden ist, ob die Talsohle durchschritten ist.
Bei einem grippalen Infekt oder der Influenza ist das anders. Erst überlegt man noch, ob man sich krank melden soll oder nicht. Dann meldet man sich krank, bleibt auf der Couch und irgendwann geht es einem so elend, dass man nicht mal mehr Lust hat etwas zu lesen. Und dann wartet man darauf, dass der eine Tag kommt, an dem es etwas besser geht als am Vortag und von da an geht es dann bergauf. Bei COVID ist auch das anders. Häufig bessern sich anfängliche Beschwerden nämlich erstmal, dann kann es mit einer gewissen Verzögerung in einer zweiten Krankheitsphase zu einer erneuten Verschlechterung des Gesundheitszustands kommen. Wir sprechen von der „viralen Abwehrphase“ und der „systemischen, inflammatorischen Antwort“.
Im März 2020 sprachen viele von einer Lungenerkrankung, weil die Luftnot und die schlechten Sauerstoffwerte im Blut so im Vordergrund standen. Dazu die CT-Bilder, die eine stärkste Lungenschädigung zeigen. Heute wissen wir, dass COVID-19 eher als eine Erkrankung der Gefäße angesehen werden muss. Das erklärt auch die schwersten Verläufe mit Multiorganversagen sowie Schlaganfälle („Neuro-Covid“), welche durch COVID-19 ausgelöst werden können.
Kommt jemand mit Fieber, Husten oder ähnlichen Symptomen zu uns ins Krankenhaus, wird er in der Regel gar nicht aufgenommen. Nur wenn nach definierten klinischen Kriterien (wie z.B. diese Empfehlung der DGKH) Gründe für eine stationäre Therapie vorliegen, nehmen wir Patienten auf. Alle Patienten, die bei uns stationär aufgenommen werden, zeigen schwerste Symptome, Patienten mit milden Symptomen sollen nach Möglichkeit zu Hause bleiben und ambulant betreut werden.
Wenn wir einen Patienten mit Verdacht oder auch gesicherter COVID-Infektion (z.B. positiver Abstrich beim Hausarzt) aufnehmen, machen wir immer eine PCR und messen den sgn. CT-Wert. Wir möchten wissen: Wie hoch ist die VIruslast? Das ist für die Behandlung, die Prognose, aber auch die Entisolierung von enormer Bedeutung.
Die Patienten werden bei Aufnahme untersucht und werden nach einer leitliniengerechte Therapie behandelt. Geht es dem Patienten irgendwann unter der Therapie besser, kann er entisoliert bzw. entlassen werden. Wenn der Allgemeinzustand eines Patienten sich trotz Therapie verschlechtert, ist meist eine Aufnahme auf die Intensivstation notwendig. Empfohlen wird dies beispielsweise bei einem relevanten Sauerstoffmangel trotz Sauerstofftherapie (SpO2 < 90% trotz 2-4lO2/min) und Luftnot oder bei einer Atemfrequenz über 30/min. Das ist ein Atemzug alle zwei Sekunden.
Wir wissen mittlerweile sehr viel über die veränderte Atemphysiologie unter COVID-19 und auch, wenn es mit schöner Regelmäßigkeit irgendwo erzählt wird – nein, wir intubieren niemanden, nur weil die Sättigung schlecht ist. Wir versuchen, mit NIV-Masken (auch in Bauchlage!) Patienten so lange wie möglich selbständig atmen zu lassen.
Man darf die Wirkung solcher Worte wie denen von Herrn Dr. Voshaar aus Moers nicht unterschätzen. Diese Worte treffen auf überforderte und ratlose Angehörige und die müssen dann anhören, wie ein Chefarzt für Lungenheilkunde erzählt: „Wenn ich jemanden intubiere – auch jetzt noch – der auch ohne Intubation hätte gut weiterleben können und ich intubiere ihn sozusagen unnötig, dann setze ich ihn auch einer unnötigen Gefahr aus und das bedeutet auch, dass wir wahrscheinlich unnötig Leben damit riskieren.“ Ich möchte gar nicht wissen, wieviel Beherrschung es von Prof. Dr. Rossaint erfordert hat, hier sachlich zu antworten.
Wir haben gar kein Interesse daran, Patienten zu intubieren. Intubierte Patienten sind wesentlich arbeitsaufwändiger, können sich beispielsweise nicht mehr selber drehen. Diese Patienten müssen aufwändig mit 6–8 Personen gedreht und manchmal auf den Bauch gelagert werden. Wenn es aber doch gar nicht mehr anders geht und wir einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre legen, dann nur deshalb weil trotz Maske und hochdosiertem Sauerstoff die Sauerstoffkonzentration im Blut dauerhaft so niedrig ist, dass eine ausreichende Versorgung des Gehirns und anderer Organe mit Sauerstoff nicht mehr gewährleistet ist.
Es ist ein hochkomplexer Entscheidungsprozess, wann welcher Patient wie (be)atmet (wird) und es ist eine Verachtung der Kompetenzen der IntensivmedizinerInnen wenn man pauschal sagt, wir würden zu früh und undifferenziert intubieren.
Die Patienten, die zu uns auf die Intensivstation kommen, haben ohnehin eine hohe Sterblichkeit (und das, obwohl wir im bundesweiten Durchschnitt recht gut dastehen). Bei manchen dieser PatientInnen reicht eine Beatmung nicht aus, die Lunge ist dann oft schon so zerstört, dass auch die hochdosierte Sauerstoffgabe nicht mehr ausreicht, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Diese Patienten benötigen dann eine ECMO-Therapie, also den Einbau einer Maschine, die Blut aus dem Körper pumpt, mit Sauerstoff anreichert, Kohlendioxid entfernt und wieder zurück gibt. Selbst mit einer solchen ECMO-Therapie (dem kompletten Ersatz von Herz- und Lungenfunktion) lässt sich nur ein Teil der Patienten retten.
Und was kommt nach der ECMO? Mit dem Einbau einer ECMO hofft man darauf, dass sich die Lunge wieder erholt. Viele Patienten verschlechtern sich aber trotz der ECMO und versterben innerhalb weniger Tage. Manche erholen sich so weit, dass sie – meist erst nach Wochen – mit einer liegenden Trachealkanüle im Hals in eine Beatmungsentwöhnung verlegt werden können. In Kontrollaufnahmen der Lunge sieht man in diesem Stadium oft schwerste Vernarbungen, wenig gesundes Lungengewebe.
Eigentlich müsste man viele dieser Patienten auf die Transplantationsliste setzen, ihnen eine neue Lunge verpflanzen. Das wäre die einzige kausale Therapie, alles andere ist nur symptomatisch. Es gibt aber erstens viel zu wenige Organe und auch aus anderen Gründen kommt diese Therapie nur für wenige in Frage.
Selbst wenn die Krankheit ansonsten überstanden ist, bleiben oft schwerste Organfunktionsstörungen. Auf Grundlage der Daten zu SARS ist zu vermuten, dass viele dieser Lungenschäden bleiben werden. In Großbritannien leben jetzt schon eine Millionen Menschen mit Symptomen von Long-Covid. Es wurde der Eindruck vermittelt: Alles gut, alles kann auf bleiben, solange wir nur genug Intensivbetten und genug Kapazitäten in den Krankenhäusern haben. Das war von vornherein der falsche Ansatz. Das Vermeiden einer Triage, der größtmöglichen medizinischen Katastrophe war die Maxime, die es zu vermeiden galt.
Dabei ist das aus meiner Sicht die falsche Perspektive. Wir reden immer über die Kosten für die Wirtschaft, die durch Schließungen entstehen, über Entlassungen und Insolvenzen. Wir müssen aber auch über die enormen Kosten sprechen, die durch Langzeiterkrankte, durch dauerhafte Arbeitsunfähigkeit und Komorbiditäten entstehen werden und die unser Gesundheitssystem für die nächsten Jahre und Jahrzehnte belasten und uns Millionen und Milliarden kosten werden.
Da rollen enorme Beträge auf uns zu. Unternehmen sind nur für Gewinne zuständig, diese Kosten werden auf die Gesellschaft abgewälzt und die Gesellschaft – das sind wir. Du und ich.
Und wenn wir über Kosten und Ausfälle reden, dann haben wir noch gar nicht über die persönlichen Schicksale geredet, die hinter jedem einzelnen Long-COVID-Patienten stehen. So schlimm wirtschaftliche Schäden für den Moment sind: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich die Wirtschaft von jeder Krise am schnellsten erholen kann. Menschen kann man nicht einfach so wieder neu starten.
Deswegen bauen wir Autos so, dass bei einem Unfall alle kinetische Energie in die Karosserie geht. Ein Auto kann so schon bei einer relativ niedrigen Geschwindigkeit komplett zerstört werden – all das ist egal, solange der Mensch, der darin sitzt, unverletzt aussteigen kann.
Das ist es, was zählt.
Lasst uns die Menschen retten, nicht die Karosserien.
Bildquelle: Johannes Krupinski, unsplash