Ich bekomm. Keine Luft. Manche Patienten können nicht mal mehr diese Worte sagen. Dann kommunizieren wir über Fragen und Nicken. Wie ich als Notarzt in dieser Situation vorgehe.
Wenn Menschen die 112 wählen weil sie Luftnot haben, wird sehr wahrscheinlich eine Notärztin oder ein Notarzt mitgeschickt. Vielleicht bin ich das dann, der zuhause vorbei kommt. Luftnot gehört zu den schlimmsten Dingen, die man als Mensch erleben kann. Ich sage das nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus der Erfahrung von unzähligen Menschen, die ich im Rettungsdienst und auf der Intensivstation erlebt habe.
Es sind sich eigentlich alle einig: Schmerzen sind fies, Übelkeit ist unangenehm, aber Luftnot ist etwas Furchtbares. Man weiß nämlich nie, ob es noch schlimmer wird, ob man am Ende elendig erstickt oder ob und wann es wieder besser wird. Es gibt Menschen, die nach einmaligen Luftnotattacken (z. B. im Rahmen eines allergisch ausgelösten Asthma Bronchiale) über Jahre nachts mit Erstickungsträumen aufschrecken.
Manche warten so lange mit dem Anruf bis es nicht mehr geht. Die bringen dann keine Wörter mehr hervor, eine Kommunikation geht manchmal nur über Nicken und Kopfschütteln. Diese Patienten bekommen in der Regel als erstes Sauerstoff über eine Maske, ich lege einen Venenzugang und gebe Medikamente gegen die Luftnot. Meist gelingt es uns so, die Patienten mit diesen Maßnahmen so zu stabilisieren, dass es ihnen etwas besser geht. Das ist der körperliche Teil der Luftnot. Bei Luftnot spielt sich aber auch ganz viel im Kopf ab.
Was hier auch immer mitschwingt, ist das Wissen um die Berichte über COVID-19. Ist es der Anfang meines eigenen Endes? Werde ich auf die Intensivstation müssen? Werde ich beatmet werden müssen und werde ich Schmerzen haben?
Ich kann den Patienten nicht sagen, dass alles wieder gut wird. Ich kann Ihnen ja noch nicht mal sagen, ab wann es wieder besser wird. Es gibt niemanden, der klingelt, wenn die Talsohle durchschritten ist.
Am Anfang steht nur ein positiver Test, vielleicht ein bisschen Kopfschmerzen. Wird schon nicht so schlimm sein, mir geht es ja gut. Solange die Infektion keine oder nur milde Symptome hervorruft, kann man die größten Fragen gut beiseite schieben. Wirklich beunruhigt sind die meisten, wenn sie aus dem Bett aufstehen und nur ins Bad laufen und das Herz rast. Eine Kollegin hatte auf ihrer Pulsuhr eine Herzfrequenz von 200/min und fühlt sich nur etwas schlapp. Sie hatte nie Luftnot, aber war beunruhigt, dass es ihrem Körper offensichtlich so schlecht ging.
Spätestens wenn Luftnot dazu kommt, ist ein Patient gezwungen, sich mit ganz existenziellen Fragen auseinander zu setzen. Da kommt niemand dran vorbei, das lässt auch niemanden kalt. An jedem einzelnen dieser Patienten hängt auch eine Familie mit Menschen, die sich Sorgen machen. Menschen, die sich die gleichen existenziellen Fragen stellen. Werden wir uns nochmal wieder sehen? Ist das das Ende unserer gemeinsamen Geschichte?
Ich habe Menschen im RTW unter Vollschutz in die Klinik gefahren, die nie wieder zu ihrer Familie zurück gekommen sind. Patienten, die von der Notaufnahme mit NIV-Maske auf die Intensivstation kamen, sich innerhalb weniger Tage dramatisch verschlechterten und wir mussten den Angehörigen dann am Telefon erzählen, dass ihre geliebte Mama, die bisher immer gesund war, jetzt im künstlichen Koma liegt und künstlich beatmet ist.
Wie ich schon im letzten Beitrag schrieb, machen wir uns diese Entscheidung zur Intubation alles andere als leicht. Wir entscheiden ausschließlich nach Klinik und arteriell gemessenen Sauerstoffwerten über den Zeitpunkt der Notwendigkeit einer künstlichen Beatmung. Die Entscheidung zur Intubation muss zwingend mit dem Oberarzt/der Oberärztin der Intensivstation besprochen werden.
Und dann müssen wir den Angehörigen am Telefon erklären, dass ihre Mama oder ihr Papa eventuell nicht mehr nach Hause kommen wird. Wir wurden schon angefeindet, unter Druck gesetzt, bedroht, sogar verklagt. Man forderte von uns Beweise, es wurde bezweifelt, dass es der Mama so schlecht gehen würde.
Aber auch das gehört dazu. Wir müssen erklären, aufklären, Bilder zeigen, den Angehörigen beim Verständnis dieser Erkrankung helfen.
Trotzdem fällt das schwer. Ich habe das Gefühl, dass ich mich als Intensivmediziner mehr und mehr rechtfertigen muss für irgendwelche Maßnahmen, die ich mache oder auch nicht mache. Jeder möchte im Detail erklärt bekommen, warum wir was wann machen. Eine Expertenmeinung wird nicht mehr als solche akzeptiert und umgesetzt, sondern Menschen erwarten unabhängig von ihrem Ausbildungsstand eine differenzierte Begründung.
Dazu kommt bei manchen eine tendenziös skeptische Grundhaltung. Es gibt nicht wenige Menschen, die glauben, dass wir alle von der Pharmamafia bezahlt werden, dass wir persönlichen Vorteil aus kranken Patienten ziehen und umso mehr Geld verdienen, je kränker ein Patient wird.
Das ist der Punkt, wo ich dann auch mal ungehalten werden kann. Ich habe nicht sechs Jahre studiert, fünf Jahre Facharztausbildung und weitere Jahre spezielle Intensivmedizinische Zusatzqualifikationen erworben, um mir von interessierten Laien, Politikern oder sogar anderen fachfremden Ärzten (s. o.) erklären zu lassen, wann wir welche Patienten wie zu behandeln haben. Ich erkläre diesen Leuten gerne, warum wir was wie machen, ich empfehle auch Erklärvideos, gerade für Angehörige nehme ich mir viel Zeit.
Aber es ist einfach keine gemeinsame Grundlage da, um den Sinn oder die Notwendigkeit intensivmedizinischer Therapien zu besprechen. Ich kann mich mit Angehörigen darüber unterhalten, ob eine Intensivierung der Maßnahmen dem mutmaßlichen Patientenwillien entspricht, aber ich kann mit den Angehörigen nicht die Indikationen und Limitationen einer Bauchlagerungstherapie besprechen. Es gibt ganze Bücher über ARDS und Bauchlagerung, wie sollte ein Nicht-Intensivmediziner das erfassen?
Intensivmedizin ist so viel schwieriger, als man es erahnt. Intensivmedizin ist wie eine Zwiebel, man arbeitet sich in jahrelanger Arbeit von Schale zu Schale und immer wenn man denkt „Jetzt habe ich es verstanden“, kommt die nächste Schale. Ich weiß noch nicht mal, wie nah ich dem Spross bin oder ob ich noch auf einer der äußeren Schalen bin.
Verkomplizierend kommt dazu, dass kein einziger Patient wie ein anderer ist. Wir wissen von bestimmten Therapien, dass sie für die meisten Patienten gut wirken und sehen doch immer wieder Patienten, bei denen eine bestimmte Therapie nicht anschlägt. Jeder. Mensch. Ist. Anders.
Deshalb verläuft auch COVID bei jedem Menschen anders. Wir stimmen unsere Therapien individuell auf jeden Patienten ab. Es gibt keine leichtfertig getroffenen Entscheidungen. Relevante Therapieänderungen werden immer in einem Team mindestens mit Oberärztin/Oberarzt und Pflegekräften gemeinsam besprochen.
Wir kümmern uns um jeden unserer Patienten mit größtmöglicher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. In unserer Freizeit lesen wir die aktuellen Leitlinien, studieren Paper und Konsensuspapiere und oft gehen solche Infos über den Mailverteiler an alle MitarbeiterInnen.
Das alles können wir leisten – solange wir freie Betten, genügend und gut qualifizierte Pflegekräfte und ÄrztInnen haben.
Hier der erste Teil:
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