Heuschrecken fressen die Klink-Landschaft kahl: Darüber klagen viele Ärzte. Warum ich finde, dass die Wahrheit vielschichtiger ist – und welche Argumente für eine Industrialisierung sprechen.
Menschen leben immer länger. In 2030 sollen schätzungsweise 11,5 Prozent der Weltbevölkerung mindestens 65 Jahre alt sein. Nicht nur deren Versorgung geht ins Geld – auch Innovationen schlagen mit teils hohen Summen zu Buche. Strategische Unternehmensberatungen schätzen, dass bis 2030 bundesweit etwa 165.000 Ärzte und 800.000 nichtärztliche Fachkräfte fehlen könnten, vor allem durch den höheren Bedarf, aber auch durch die sinkende Attraktivität solcher Berufe. Ich denke: Mit mehr Industrialisierung gelingt es uns, Medizin fit für die Zukunft zu machen. Und hier kommen meine Argumente.
Ärzte sind heute nicht mehr bereit, ihr Leben an der Klink-Garderobe abzugeben. Work-Life-Balance ist mehr als ein Modewort. Große Konzerne mit vielen Standorten und mit zeitgemäßem Personalmanagement werden bessere Beschäftigungsmodelle anbieten als 48 Stunden oder mehr pro Woche, 24-Stunden-Schichten inklusive.
Kliniken stehen mehr und mehr in Konkurrenz um Fachkräfte. Wer Ärzten bessere Rahmenbedingungen anbietet, dazu gehören neben den Arbeitszeiten auch das Gehalt und Fortbildungsmöglichkeiten, wird das Rennen machen. Andere Häuser gehen leer aus.
Fachkräfte sind rar, doch die medizinische Industrialisierung bietet auch hier eine Antwort. In allen Fällen geht es nicht darum, Angestellte zu ersetzen, sondern sie von Tätigkeiten zu entlasten, die Zeit rauben, ohne wirklich in fachlicher Hand liegen zu müssen.
Künstliche Intelligenz hilft Ärzten bei der Auswertung mikroskopischer Aufnahmen der Pathologie. Auch bei CT- oder MRT-Aufnahmen helfen solche Tools, um effizienter Bilder zu analysieren. Und in digitalen Patientenakten finden Algorithmen Hinweise auf Krankheiten, bevor Patienten auffällige Symptome zeigen. Big Data aus der Intensivmedizin liefern beispielsweise deutlich früher als üblich Hinweise auf eine drohende Sepsis.
Auch vor dem Pflegebereich machen Innovationen nicht Halt. Roboter unterstützen beim Lagern von Patienten, Sensoren warnen vor Wundliegen. Oder sie melden, wenn Windeln zu wechseln sind. Großen Konzernen mag es vorrangig darum gehen, Geld zu sparen. Doch der sinnvolle Einsatz von Technologien kommt auch Angestellten zu Gute.
Nicht alle Errungenschaften der Industrialisierung haben direkt mit Technik zu tun. Seit Jahren lautet das erklärte Ziel von Krankenhäusern, die Qualität zu optimieren. Leitlinien gibt es zur Genüge. Aber nicht jedes Dokument ist aktuell – und nicht jedes Dokument ist praxistauglich. Große Ketten können auf Basis wissenschaftlicher Evidenz selbst interne Handlungsanweisungen entwickeln.
Auch hier gilt: Verschiedene Häuser konkurrieren miteinander. Wer gute Resultate hat, gewinnt Patienten, aber auch Fachkräfte.
Große, international tätige Klinikkonzerne haben noch weitere Stärken. Ihr wirtschaftliches Potenzial reicht aus, um von Herstellern als relevanter Player im Markt wahrgenommen zu werden. Das heißt: Sie könnten mit pharmazeutischen Herstellern direkt Preise aushandeln – womöglich erfolgreicher als GKVen. Derzeit kosten innovative Pharmaka oft Mondpreise, während Generika so günstig sind, dass sie sich kaum noch rentabel herstellen lassen.
Aber auch in der Medizinprodukt- und Medizintechnik-Sparte punkten große Konzerne. Es geht nicht nur um die oft diskutierte Frage, wie Versorgung bezahlbar bleibt. Schon heute übernehmen GKVen etwa bei Zahnimplantaten oder bei Laser-OPs zur Verbesserung des Visus wenig bis gar nichts mehr. Und ob künftig Patienten jedes Alters Endoprothesen auf Kosten ihrer Kasse erhalten, sei auch dahingestellt. Das will heißen: Patienten müssen häufiger und tiefer in die Tasche greifen. Sie werden vergleichen, welche Klinik-Gruppe die besten Angebote hat.
Mein Fazit: Derzeit liest man viel über Nachteile der Industrialisierung im Gesundheitswesen. Viele Kritikpunkte mögen gerechtfertigt sein. Nur allzu schnell vergessen wir aber darüber, welche Vorteile große Konzerne zusammen mit innovativer Technik bieten.
Selbst Experten halten die Angst vieler niedergelassener Kollegen vor einer weiteren Ausbreitung der MVZ für nicht gerechtfertigt; mehr Regulierung brauche es nicht, heißt es in einem umfangreichen Gutachten von Gesundheitsrechtlern. Und nicht zuletzt: Aufhalten können wir solche Trends ohnehin nicht mehr. Besser wäre, sie mitzugestalten.
Hier lest ihr die Gegenposition:
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