Alle Augen sind aufs Infektionsgeschehen gerichtet, aber Long Covid wird vernachlässigt. Wie viele sind bereits betroffen? Während Deutschland im Nebel stochert, ist man anderswo schon weiter.
Vier bis fünf Wochen nach der Infektion mit SARS-CoV-2 lässt sich im Körper von Patienten meist kein virales Erbgut mehr nachweisen. Gesund fühlen sich viele Menschen aber trotzdem nicht. Laut einer großen Metaanalyse mit fast 50.000 Patienten hatten rund 80 % mindestens ein Langzeit-Symptom wie Müdigkeit, Atemnot, Gelenkschmerzen oder Brustschmerzen. Und: Nicht nur die Morbidität geht nach oben, auch die Mortalität erhöht sich.
Deutschland hat auf die Herausforderung zwar reagiert – mittlerweile sind unzählige Post-COVID-Ambulanzen entstanden. Schön und gut, nur fehlen uns übergreifende Daten zu Symptomen oder zu Rehospitalisierungen. Von anderen Nationen könnten wir viel lernen.
Sie arbeiten mit anonymisierten Daten aus elektronischen Patientenakten, um mehr zu erfahren. Aus Großbritannien kommen zwei Kohortenstudien zu diesem Thema.
Daniel Ayoubkhani vom Office for National Statistics hat Daten von 47.780 Personen ausgewertet. Sie wurden bis 31. August 2020 nach stationärer COVID-19-Therapie entlassen. Das Durchschnittsalter lag bei 65 Jahren, 55 % waren Männer. Als Kontrollen zogen die Forscher Daten von 50 Millionen Menschen aus England mit ähnlichen demographischen und klinischen Merkmalen heran.
Nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 140 Tagen wurde knapp jeder dritte ehemalige COVID-19-Patient erneut stationär aufgenommen (14.060 von 47.780), und mehr als jeder zehnte starb. „Katastrophale Quote, spontan fallen mir nur maligne Tumorerkrankungen mit solchen Daten ein“, kommentiert ein Arzt auf Twitter.
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Atemwegserkrankungen, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen traten häufiger auf als in der Kontrollgruppe. „Die Diagnose, Behandlung und Prävention des Post-Covid-Syndroms erfordert eher integrierte als organ- oder krankheitsspezifische Ansätze, und es sind dringende Untersuchungen erforderlich, um die Risikofaktoren zu ermitteln“, fordern die Autoren.
Weitere Details kommen von Wissenschaftlern der University of Oxford rund um Maxime Taquet. Sie befassten sich mit der Frage, welche neurologischen oder psychiatrischen Folgen mit COVID-19 langfristig verbunden sind – ebenfalls auf Basis elektronischer Patientendaten. Ihre Kohorte umfasste 236.379 Patienten. Ale Teilnehmer hatten COVID-19, jedoch mit unterschiedlicher Schwere. In den Kontrollkohorten befanden sich Patienten mit anderen Atemwegserkrankungen.
Die Inzidenz einer neurologischen oder psychiatrischen Erkrankung lag bei 33,62 %, wobei 12,84 % aller Patienten nach der Infektion ihre erste derartige Diagnose erhielten. Bei Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt worden waren, nennen die Autoren 46,42 %, speziell für eine Erstdiagnose waren es 25,79 %.
Hinzu kamen als Inzidenzen 0,56 % für intrakranielle Blutungen, 2,10 % für ischämische Schlaganfälle, 0,11 % für Parkinsonismus, 0,67 % für Demenzen, 17,39 % für Angststörungen und 1,40 % für psychotische Störungen. In der Gruppe mit vorheriger Behandlung auf der Intensivstation waren es 2,66 % für intrakranielle Blutungen, 6,92 % für ischämische Schlaganfälle, 0,26 % für Parkinsonismus, 1,74 % für Demenzen, 19,15 % für Angststörungen und 2,77 % für psychotische Störungen.
„Unsere Studie liefert Hinweise auf eine erhebliche neurologische und psychiatrische Morbidität in den 6 Monaten nach einer COVID-19-Infektion“, so Taquet und Kollegen. „Das Risiko war am größten bei Patienten, die eine schwere COVID-19-Infektion hatten.“
In beiden Fällen vergleichen Forscher eine Gruppe mit und eine Gruppe ohne COVID-19-Exposition. Sie sehen – wie bekannt – Assoziationen, aber keine Kausalitäten.
Solche Studien wird es aus Deutschland momentan kaum geben. Das Höchste der Gefühle sind momentan Abrechnungsdaten im GKV-Bereich. Aber schon durch die Kodierung entstehen statistische Verzerrungen. Denken Ärzte immer an COVID-19, wenn sie Erkrankungen diagnostizieren und therapieren? Das darf bezweifelt werden.
Die elektronische Patientenakte (ePA) soll ab 2022 zwar etliche Funktionen bieten. Erst ab 2023 haben Versicherte dann die Möglichkeit, im Rahmen einer Datenspende freiwillig eigene Angaben bereitzustellen. Für Long Covid ist das zu spät.
Als Alternative bleibt uns also hierzulande nur, Patientenregister zu etablieren. Doch der Teufel steckt im Detail. Experten kritisierten bereits vor einigen Jahren, viele Register hätten nicht die nötige Datenqualität. Außerdem seien sie kein Ersatz für randomisierte, kontrollierte Studien. So viel sollte klar sein – RCTs bleiben der Goldstandard, wenn es etwa um die Frage geht, welche Therapien bei Long Covid einen Nutzen bringen. Aber zumindest eine Ahnung zu haben, wie die Situation der Patienten mit Long Covid in Deutschland ist, wäre schon eine gute Sache.
Bildquelle: Oscar Keys, unsplash