Der Kunde betritt die Apotheke, natürlich ohne Maske, und will allerlei vorbestellte Mittelchen abholen. So weit, so gewohnt. Als er beim Bezahlen aber ein Taschenmesser zückt, traue ich meinen Augen kaum.
Ich muss zu folgender Geschichte sagen, dass die meisten meiner Apotheken-Stories zwar eher negativ sind, das aber dann nicht unbedingt das wahre Leben widerspiegelt. Natürlich gibt es viele negative Situationen, aber eben auch viele positive. Nur sind die letzteren weniger erzählenswert und momentan sowieso etwas seltener als noch in der Zeit vor Corona.
Es war kurz vor Feierabend, ich war alleine im Handverkauf und es war viel zu tun, da alle paar Minuten jemand zur Tür hereinkam. Weiter im Präsens.
Die Tür geht auf und ein Mann in seinen Sechzigern betritt die Apotheke.
Maske? Fehlanzeige.
„Guten Tag. Sie müssen bitte eine Maske tragen“, sage ich freundlich, doch er ignoriert mich.
Er steht mittlerweile mitten in der Apotheke und ich fühle mich von seinem maskenlosen Gesicht getriggert. Langsam öffnet er seine Tasche und zieht eine Maske hervor. Eine Stoffmaske. Auch nicht mehr gestattet, aber nun gut. Er setzt sie quälend langsam auf und nachdem meine Kundin fertig ist und sich verabschiedet, kommt er auf mich zu.
„Ich hab telefonisch etwas vorbestellt. Mein Name ist Huan. Martin Huan.“
Ich gebe seinen Namen in den Computer ein:
H. U. A. N.
Ah, da haben wir ihn schon. Ich übernehme den Vorgang in die Kasse und gucke nach seiner Abholnummer. Homöopathische Tropfen, ein Schüßler-Salz und Cardiodoron®-Tropfen. Ein anthroposophisches Mittelchen, das laut Anthroposophen bei Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems eingesetzt werden soll. Es enthält unter anderem Hyoscyamus niger, das schwarze Bilsenkraut. Eine giftige Pflanze.
Da darin eine so hohe Konzentration von Hyoscyamus Niger enthalten ist, dass das Präparat durchaus giftig sein kann, unterliegt es der Verschreibungspflicht.
Ich hole seine Bestellung aus dem Abholregal und lege ihm alles vor.
„Haben Sie das Rezept für Cardiodoron® dabei?“, frage ich ihn.
„Nein, das habe ich jetzt zu Hause liegen lassen. Das bekomme ich doch jetzt aber trotzdem mit, oder?“
„Da es verschreibungspflichtig ist, benötige ich ein Rezept. Ohne Rezept darf ich es Ihnen nicht geben.“
Er schüttelt seinen Kopf und zeigt kein Verständnis.
„Ich lege es Ihnen beiseite und Sie können es sich dann morgen abholen.“
„Okay. Ich bezahle es jetzt aber trotzdem schon mit.“
„Bar oder mit Karte?“
„Mit Karte.“
Ich bereite die Zahlung vor und stelle ihm das Kartenlesegerät hin. Er steckt seine Karte hinein und das Gerät möchte, dass er seine PIN eingibt.
Anstatt die PIN einzutippen, greift er in seine Hosentasche und wühlt darin herum. Ich vermute, dass er nun einen Zettel herausziehen wird, auf dem er sich die PIN notiert hat. Doch weit gefehlt. Er zieht einen roten Gegenstand heraus. Ein Schweizer Taschenmesser.
Ein Schweizer Taschenmesser? Ein Schweizer Taschenmesser! Ich habe keine Ahnung, was er jetzt mit einem Schweizer Taschenmesser machen möchte. Einem dicken, roten Schweizer Taschenmesser. Er öffnet es.
Nein, nicht den Schraubenzieher, er öffnet das Messer.
Er steht nun mit einem geöffneten Messer vor mir, was ich irgendwie absurd finde.
Ich vermute aber, dass er vielleicht irgendwo darin einen kleinen Zettel versteckt hat, den er gleich daraus hervorziehen wird. Nein.
Er tippt nun endlich seine PIN ein.
MIT DER SPITZE SEINES MESSERS!
Mit der Spitze seines Messer sticht er auf die weichen Gummitasten des Kartenlesegeräts ein. Nur, damit er die Tasten nicht anfassen muss, riskiert er, sie zu beschädigen.
Ich sage ihm sofort, dass er damit aufhören soll, dass er mit seinem Messer die Tasten beschädigen kann. Dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist und dass er seine Hände genauso gut desinfizieren könne.
ABER ES INTERESSIERT IHN ALLES NICHT.
Er lässt sich nicht beirren und verspottet mich auch noch. Ich würde übertreiben und er beschädige schon nichts.
Der Zahlvorgang ist beendet, er nimmt seinen Abholschein und wird morgen seine Tropfen abholen. Er geht.
Manchmal denke ich echt, ich bin im falschen Film.
Und wahrscheinlich bin ich das auch.
Aber damit muss ich wohl leben.
Während ich gerade eine Kundin bediene, sehe ich ihn vor der Tür stehen. Den Messermann von gestern. Shit. Keine Lust auf diesen unangenehmen Zeitgenossen. Dieses Mal setzt er sich seine Maske immerhin brav VOR der Apotheke auf. Gut.
Meine Kundin kommt so langsam zum Ende und ich hoffe, dass meine Kollegin vor mir fertig sein wird, damit ich mich nicht schon wieder mit ihm herumschlagen muss. Vielleicht versteht sich ja meine Kollegin besser mit ihm. Schließlich ist sie auch etwas schwurbelig …
Tja, Pech gehabt. Meine Kundin ist leider schneller fertig, als der Kunde meiner Kollegin. Dumm gelaufen, denn da kommt er schon auf mich zu.
„Guten Tag, hier ist mein Rezept.“
„Guten Tag.“
Er legt mir sein Rezept vor und ich erkenne, dass Cardiodoron® zwar verordnet wurde, aber nicht in diesem Jahr.
„Das Rezept ist leider nicht mehr gültig.“
„ABER DAS IST EIN EMPFEHLUNGSREZEPT. DAS IST GRÜN! DA IST ES DOCH EGAL, WIE ALT DAS REZEPT IST“, sagt er erhitzt, aber nicht ganz so laut, wie die Großbuchstaben implizieren.
„Ein Empfehlungsrezept ist zwar meistens grün, das ist richtig. Sobald aber etwas Verschreibungspflichtiges auf dem Rezept steht, ist es kein Empfehlungsrezept mehr, sondern ein Privatrezept“, antworte ich in einem ruhigen und sachlichen Ton.
„NEIN!“
„Doch!“
„Das darf doch alles nicht wahr sein“, flucht er und nimmt sein seit Monaten abgelaufenes Rezept wieder an sich. Aufgebracht verlässt er die Apotheke.
ABER: Gesetz ist Gesetz. Da kann man nichts machen.
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