Die Variante B.1.1.7 ist doch nicht so gefährlich wie gedacht – so die Aussage zweier Studien, die jetzt viel zitiert werden. Doch das stimmt so nicht.
Ist B.1.1.7 gefährlicher als andere Corona-Varianten oder nicht? Forscher diskutieren die Frage seit der Entdeckung im Herbst letzten Jahres in Großbritannien und untermauern ihre Einschätzung mit mal mehr, mal weniger überzeugenden wissenschaftlichen Untersuchungen. Zwei neue Studien, die jetzt im Lancet erschienen sind, geben scheinbar Entwarnung. Doch bei genauem Lesen ist die Sache nicht mehr ganz so klar.
Die Autoren der ersten Studie verglichen die Krankheitsschwere sowie den Verlauf von 198 Patienten, die mit B.1.1.7 infiziert waren, mit 143 Patienten, die eine andere Variante aufwiesen. Das Fazit: Es gibt keine Assoziation zwischen schwerer Erkrankung oder Tod und dem Vorhandensein von B.1.1.7. Die Patienten, die mit B.1.1.7 infiziert waren, wiesen aber eine höhere Viruslast auf. Dies werteten die Autoren als Hinweis darauf, dass die Variante infektiöser ist. Auffällig war aber, dass mehr Patienten unter 60 Jahren mit weniger Vorerkankungen mit B.1.1.7 infiziert waren als ältere. Von diesen jungen Patienten starben auch mehr als in der Gruppe, die mit einer anderen Variante infiziert waren.
Interessant ist, wie Kollegen die Studie einschätzen. Dr. Nicholas Davies, Evolutionsbiologe und Epidemiologe der London School of Hygiene and Tropical Medicine lobt die Methodik der Studie und erklärt völlige Übereinstimmung der Daten mit einer eigenen Veröffentlichung. Nur ist das Fazit seiner eigenen Nature-Studie, die vor wenigen Wochen erschien, ein scheinbar komplett anderes: Er kommt darin zum Ergebnis, dass B.1.1.7 sehr wohl gefährlicher ist als die ursprüngliche Corona-Variante.
Doch er hat für die andere Interpretation der Daten auch eine Erklärung parat: „Die neue Studie widerlegt nicht die bestehenden Beweise“, erklärt Davies. „Diese Studie konzentriert sich auf die Ergebnisse bei einer anderen Gruppe von Menschen, nämlich bei Personen, die bereits mit COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden.“ Insgesamt deute die Evidenz darauf hin, dass man mit B.1.1.7 eher im Krankenhaus landet als mit vorbestehenden Varianten von SARS-CoV-2, meint der Experte. „Aber sobald man im Krankenhaus ist, gibt es keine wesentlichen Unterschiede im Outcome.“
In der zweiten Studie wollten die Autoren untersuchen, ob Erhöhungen des Anteils von Infektionen mit der B.1.1.7-Variante mit Unterschieden in Symptomen oder Krankheitsverlauf, Reinfektionsraten oder Infektiosität verbunden sind. Daten zu Art und Dauer der Symptome wurden aus Berichten von knapp 36.000 Nutzern der „COVID Symptom Study App“ gewonnen. Die Autoren fanden aber keine Veränderungen bei den gemeldeten Symptomen oder der Krankheitsdauer in Verbindung mit B.1.1.7.
Doch das Problem mit dieser Studie ist schon offensichtlich. Studien, in denen Infizierte oder COVID-19-Patienten freiwillig Selbstauskünfte über eine App übermitteln, können zwar hilfreiche Daten liefern, sie scheinen aber eher nicht dafür geeignet zu sein, um zu untersuchen, ob eine Corona-Variante gefährlicher ist als eine andere. Ein schwerkranker COVID-Patient auf der Intensivstation denkt vermutlich nicht daran, seine App bezüglich seiner Erkrankungsschwere auf dem neusten Stand zu halten. Die Autoren erklären selbst, dass es Hinweise darauf gibt, dass Infektionen mit B.1.1.7 mit einem erhöhten Sterberisiko verbunden sind, doch ihre eigenen Daten erlauben es nicht, dies einzuschätzen.
Bislang spricht die Datenlage insgesamt dafür, dass B.1.1.7 nicht nur infektiöser sondern auch gefährlicher ist als die ursprüngliche Corona-Variante. Daran ändern auch die zwei Lancet-Studien nichts.
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