Eine Studie will Beweise dafür gefunden haben, dass ADHS zu häufig diagnostiziert wird. Nicht alle Experten sind davon überzeugt – und halten die Aussage sogar für gefährlich.
Stellen Ärzte die Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu häufig? Den Vorwuf gibt es schon seit Jahren, bislang gab es aber keine umfangreichen systematischen Untersuchungen dazu. Nach den Autoren einer aktuellen Studie wurden jetzt „überzeugende Beweise“ dafür gefunden, dass ADHS bei Kindern und Jugendlichen überdiagnostiziert ist. Davon seien vor allem Kinder betroffen, die nur milde Symptome zeigen. Diese Kinder würden nicht nur unnötigerweise Medikamente einnehmen – nach den Autoren schade die Diagnose und Behandlung unter anderem auch ihrer beruflichen Laufbahn und ihrer sozialen Entwicklung.
ADHS gehört zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. In Deutschland haben nach Zahlen des Robert Koch-Instituts 4,4 % der 3- bis 17-Jährigen eine ADHS-Diagnose. Die Prävalenz der Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen wird weltweit auf rund 5 % geschätzt. Zu den drei Kernsymptomen gehören Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe (Hyperaktivität) und Impulsivität.
Für ihre systematische Übersichtsarbeit überprüften die Forschenden um Erstautorin Luise Kazda, Doktorandin an der University of Sydney, Studien an Kindern und Jugendlichen (im Alter von ≤ 18 Jahren) mit ADHS, die sich auf Überdiagnose konzentrierten. Eingeschlossen wurden 334 Primär- und Sekundärstudie mit Peer-Review. Die meisten von ihnen wurden innerhalb der letzten zehn Jahren veröffentlicht, die Daten kamen hauptsächlich aus Nordamerika und Europa.
Das Ergebnis: In 104 Studien wurden laut Autoren substanzielle Hinweise auf eine Überdiagnose gefunden. In 45 Studien konnten sie Nachweise dafür finden, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen zugenommen hat. Und 25 Studien zeigten, dass diese zusätzlichen Fälle am milderen Ende des ADHS-Spektrums liegen. 83 Studien lieferten Belege dafür, dass die pharmakologische Behandlung von ADHS zunahm.
Eine der wichtigsten Erkenntisse für Erstautorin Kazda: Die Diagnose von ADHS habe seit den 1980er Jahren weltweit zugenommen. „In ähnlicher Weise sind die Medikationsraten in einigen Ländern ziemlich dramatisch gestiegen“, sagt Kazda. Auffällig ist für sie, dass es während dieser Zeit aber keinen entsprechenden Anstieg der ADHS-Symptome gab.
„Kinder sind heute im Durchschnitt in der Bevölkerung genauso symptomatisch wie vor 20 bis 30 Jahren“, so Kazda. Es habe also keine enorme Zunahme an Kindern gegeben, die hyperaktiv oder unaufmerksam seien. Vielmehr gebe es den Trend zur Diagnose von Kindern, die „die jüngsten in ihrem Schuljahr sind“. Für sie ein Zeichen, dass aufgrund ihrer „relativen Unreife“ mehr Kinder diagnostiziert werden. Insgesamt sieht sie die Entwicklung, „dass immer mehr mildere Kinder diagnostiziert werden, also Kinder mit Grenzsymptomen“.
Sie befürchtet, dass erweiterte Diagnose-Parameter den Nutzen von medikamentösen Behandlungen verringert. Und außerdem eine Reihe negativer Effekte für die Pateinten mit sich zieht. In der Studie erklärt sie: Auf Kinder mit milden ADHS-Symptomen hätte die Behandlung mit Medikamenten im Vergleich zu Kindern, die ein vergleichbares Verhalten zeigten, aber nicht medikamentös behandelt werden, potenziell negative Auswirkungen auf ihre schulischen Leistungen, etwa in Mathematik und Lesen. Auch auf ihr Sozialleben wirke sich die Medikation negativ aus.
Ihre Bilanz: Die Medikation habe für Kinder mit milden Symptomen deutlich weniger Vorteile als für Kinder mit schwerer Symptomatik. „Alles in allem ist es viel wahrscheinlicher, dass diese Kinder durch Diagnose und anschließende Behandlung geschädigt werden, als dass sie davon profitieren“, sagt Kazda.
Während die Studienautoren überzeugt sind, Beweise für zu häufige ADHS-Diagnosen gefunden zu haben, sind andere Experten skeptisch, was diese Schlussfolgerung betrifft. „Nur weil die Rate [...] und die Ausgabe von Medikamenten gestiegen ist und die erhöhte Rate offenbar eher auf mildere Fälle ausgerichtet ist, ist dies für mich kein zwingender Beweis für Überdiagnose und Überbehandlung“, sagt Dr. James Best. Er ist Vorsitzender des Netzwerks für Kinder- und Jugendgesundheit am Royal Australian College of General Practice (RACGP).
Dr. Best stellt diese Aussage nicht nur in Frage, er ist auch besorgt über die möglichen Auswirkungen auf Kliniker, Patienten und deren Familien, die von diesen Ergebnissen hören. Für ihn ist es nämlich genau andersrum: Er glaubt, dass ADHS derzeit unterdiagnostiziert und unterbehandelt ist. Diese Studie könnte laut Best möglicherweise falschen Alarm auslösen. Ginge es nach ihm, sollten die Autoren in ihrer Schlussfolgerung deutlich vorsichtiger sein.
Kazda und ihr Team räumen zwar Schwächen ihrer Studie ein, bleiben aber bei ihrem Fazit: Ihre Überprüfung zeige, dass Kinder mit Grenzsymptomen überdiagnostiziert seien und dadurch geschädigt würden. Anstatt Kinder mit ADHS vorschnell zu diagnostizieren, empfehlen sie einen Ansatz der „schrittweisen Diagnose“. Es könnte besser sein, diese jungen Kinder nicht direkt den ADHS-Stempel aufzudrücken, sondern erstmal von einem Team aus Lehrern, Eltern und Ärzten unterstützt und beobachtet zu werden.
Zwar kann Dr. Best den Wunsch nachvollziehen, der Patientenbeobachtung mehr Zeit einzuräumen. Er befürchtet aber, dass Kinder, die von einer Behandlung profitieren könnten, so möglicherweise die Gelegenheit verpassen, rechtzeitig ihre richtige Therapie zu erhalten.
Bildquelle: Zahra Amiri, unsplash