MEINUNG | Warum schlagen die Intensivmediziner jetzt Alarm, wenn doch noch 500 Betten frei sind? Gehen wir die Antwort Schritt für Schritt durch. Eins vorweg: Wir sind kurz vorm Kollaps.
Ja, ihr habt richtig gelesen. Es geht um diese Fragen, mit denen wir Mediziner gerade in letzter Zeit immer wieder konfrontiert werden:
Diese Fragen lassen sich nicht mit einem Satz beantworten. Akzeptieren zu können, dass bestimmte Netzwerke, Zusammenhänge und Fachbereiche so komplex sind, dass man sie als Laie nicht einfach durchdringen kann, erfordert: Intelligenz. Die Pandemie fordert uns alle intellektuell heraus. Das Problem: Wir Menschen tendieren dazu, unser eigenes Wissen zu überschätzen.
Die „freien Intensivbetten“ sind nur eins von unzähligen Themen, die im Rahmen der Coronakrise aufploppten. Es wird nicht mehr akzeptiert, wenn ein echter Experte sagt „Rot wäre gut“. Es wird nachgefragt, ob gelb nicht besser wäre, was man denn gegen grün hat und ob es nicht besser wäre, abzuwarten bis aus Blau eben auch Rot wird. Von Farbenblinden, die im Dunkeln sitzen. Ich habe es aufgegeben, mit diesen Leuten zu diskutieren. Denen kann man auch nichts erklären. Die biegen sich ihre Realität zurecht, da kommt man mit Fakten nicht mehr gegen an.
Der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass objektiv inkompetente Menschen ihr Wissen und ihre Kompetenz dramatisch überschätzen. Mit zunehmendem Fachwissen wächst die Erkenntnis, eigentlich sehr wenig zu wissen – und die Einschätzung der eigenen Kompetenz nimmt ab. Erst nach fundiertem Wissenszugewinn und echter Expertise wird der eigene Wissensstand realistisch und dann auch berechtigt als kompetent eingeschätzt. Männer neigen übrigens eher dazu, ihr Wissen zu überschätzen, als Frauen.
Es gibt aber auch eine Menge Leute, die kluge Fragen stellen. Die sagen: Ihr redet von Alarmstufe Rot und hier im Kreis sind noch 7 von 120 Intensivbetten frei – reicht das nicht? Diese Frage lässt sich Schritt für Schritt beantworten:
Es gibt nämlich kleinere und größere Krankenhäuser. Gerade in ländlich geprägten Gebieten gibt es eher kleinere Krankenhäuser. Wir unterscheiden hierbei Grundversorger, Regelversorger, Schwerpunktversorger und Maximalversorger.
Alle Kliniken haben hier ihre Aufgabe im Gesamtsystem. Es gibt sehr viele Menschen, die einen entzündeten Wurmfortsatz („Appendix“) haben und es gibt sehr viele Kliniken, die einen solchen entfernen können. Alle Kliniken können eine Kopfplatzwunde versorgen, die meisten auch eine Skalpierungsverletzung mit Abtragung der Kopfhaut. Ein geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma braucht mindetens ein CT und für ein offenes Schädel-Hirn-Traum braucht man eine Klinik mit Neurochirurgie (Maximalversorger o.ä.).
Ein Patient mit einem offenen Schädel-Hirn-Trauma kann also nicht in einem Haus der Grund- oder Regelversorgung adäquat versorgt werden. Diese Patienten müssen in Schwerpunktversorger mit Neurochirurgie oder Unikliniken (die alles versorgen können).
Sind Regelversorger also überflüssig? Im Gegenteil! Kleinere Krankenhäuser haben viele positive Aspekte (persönlicher Kontakt, kurze Wege, enge Anbindung an Hausärzte etc.), kommen aber bei komplexen Krankheitsbildern unter Umständen an ihr Limit. Diese Krankenhäuser haben auch Intensivstationen, haben dort aber eher selten beatmete Patienten liegen.
Ohne hier irgendwem zu nahe zu treten – ich habe viele Patienten von kleinen und sehr kleinen Intensivstationen in größere Krankenhäuser verlegt. Gerade COVID-Patienten sind extrem herausfordernd und werden deshalb bei klinischer Verschlechterung gerne in größere Zentren zur weiteren Therapie verlegt.Beatmungsparameter jenseits von gut und böse, erhebliche lagerungsabhängige Kreislaufinstabilität. Believe me – ich habe viele Intensivpatienten behandelt (Herztransplantierte, Kinder, Polytraumen und Kombinationen all dieser …) aber beatmete COVID-Patienten – die sind tricky.
Man kann nicht pauschal sagen, dass Patienten in kleineren Häusern immer schlechter versorgt sind oder in der Uniklinik immer optimal versorgt sind.Gerade in kleinen Krankenhäusern findet man manchmal sehr gute Intensivmediziner und engagierte Pflegekräfte und umgekehrt. In größeren Häusern gibt es aber personell (z.B. tägliche Antibiotikavisiten mit einem Mikrobiologen, Beratung durch einen Apotheker etc.) und technisch (eigenes Labor und umgehende Ergebnisse und kein „Labortaxi“u.a.) andere Möglichkeiten.
Diese Bedingungen können manchmal das Quentchen ausmachen, ob ein Patient trotz invasiver Beatmung nochmal z.B. durch Bauchlage, engmaschige Bronchoskopien etc. um eine ECMO herum kommt. Patienten werden oft „zur ECMO“ an die Uniklinik verlegt und benötigen dann gar keine ECMO.
Nun stellen sich vielleicht manche die Frage: Wenn diese gar keine ECMO benötigen (weshalb sie ja ursprünglich verlegt wurden) hätte man sie auch dort lassen können, oder?
Nein, denn diese Patienten werden oft nur deshalb besser, weil (!) sie von der Expertise, (Wo)Manpower und Infrastruktur so sehr profitieren. So wurden während der ersten und zweiten Welle viele kritisch Kranke in Häuser höherer Versorgungsstrukturen verlegt. Gleichzeitig wurden in diesen kleineren Regelversorgen viele Elektiveingriffe (Prothesen/Gelenkersatz, Tumorchirurgie etc.) abgesagt, um Ressourcen frei zu halten.
So kam es, dass kleinere Häuser weniger Patienten operierten, die auf der Intensiv hätten behandelt werden müssen und gleichzeitig ihre kranken COVID-Patienten in andere Kliniken verlegten. In diesen Häusern gab es zeitweise wirklich relevante Leerstände. Ein sehr geschätzter Kollege von mir schrieb mir, er wisse nicht, warum um die paar Patienten so ein Wirbel gemacht würde.
Kein Wunder, lagen doch bei ihm im Haus nur zwei Covid-Patienten. Milde Sauerstoffpflichtig, nicht beatmet. Die Kranken waren nämlich bereits alle verlegt. Gleichzeitig konnten sich größere Häuser kaum retten vor schwerkranken Patienten, die meist nicht nur ein paar Tage, sondern unter Umständen mehrere Wochen auf einer Intensivstation liegen. Zusätzlich zu den schwerstkranken COVID-Patienten müssen diese Kliniken aber auch noch die Nicht-Covid-Patienten versorgen, die in den kleineren Kliniken nicht versorgt werden können.
Wenn dann wie zuletzt in ganzen Landkreisen Auslastungen jenseits der 90 % erreicht werden, ist weder der Rettungsdienst, noch die Krankenhäuser selbst handlungsfähig.
Es nützt dem Intensivmediziner in Köln für seinen Patienten nach Einriss der Hauptschlagader nichts , wenn im Kreis Höxter ein paar freie Intensivbetten bei Grund- und Regelversorgern frei stehen. In der Statistik sind auch das „High-Care“-Betten. So bezeichnet man Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit.High-care ist aber eben nicht gleich high-care. Das kann man nicht 1:1 miteinander vergleichen. Zusätzlich gibt es erhebliche, regionale Unterschiede.
Wir laufen gerade extrem am Limit und ja, das hat ganz konkrete, sehr tödliche Konsequenzen. Die großen Häuser laufen zu – Patienten „stauen“ sich zurück.Wir machen keine Triage an der Tür zur Klinik (Darf ich mal Ihren Pass sehen? Unter 60? Sorry, kein Zutritt!). Die Verteilung (zu) knapper Ressourcen läuft als sogenannte weiche Triage.
Es ist ein kontinuierlicher Ritt auf der Rasierklinge. Wir versuchen immer noch, für jeden einzelnen Patienten das Beste rauszuholen, aber oft muss man auch einfach die bestmögliche Option wählen, weil die beste Option nicht verfügbar ist. Wie so viele Intensivmediziner (und ich schließe die Pflege mit ein!!) bin ich sehr enttäuscht, wie wir mit diesen gigantischen Problemen im Stich gelassen werden.
Hier läuft die größte Katastrophe seit Kriegsende und Laschet hat nur Kanzler im Kopf. Vieles in diesem Land läuft gerade so absurd, dass ich nur noch laut lachen kann. Es ist ein verzweifeltes Lachen, nah am Wahnsinn. Wir müssen ständig neue Hiobsbotschaften schlucken, aber irgendwie werden wir trotzdem weiter machen.
Unsere Landesregierung in NRW hat es geschafft, den schlechtestmöglichen Mix aus Zermürbung der Bevölkerung mit immer neuen, einschränkenden Maßnahmen ohne Aussicht auf Besserung und trotzdem mit ansteigenden Infektionszahlen zu treffen. So schamlos muss man erstmal sein, sich damit für das Bundeskanzleramt zu empfehlen. Es fällt schwer, mit diesem Wissen weiter zu machen, aber natürlich geben wir nicht auf.
Ich kenne viele Intensivmediziner und Intensivpflegekräfte. Die machen das nicht als Job, das ist eine Berufung. Anders wäre dieser beneidenswerte Mix aus Überbelastung, schlechter Bezahlung und fehlender echter Wertschätzung auch nicht zu erklären.
Wir bleiben für Euch da, bleibt ihr für uns zu Hause. Und – bleibt gesund!
Bildquelle: Natanael Melchor, unsplash