Was ist mit den Intensivbetten, die damals aus der DIVI-Statistik „verschwunden“ sind? Diese Frage taucht immer wieder auf, wenn es um Kapazitäten geht. Doch gab es diese Betten jemals?
Beginnen wir ganz von vorne. Den Höhepunkt erreichte die Betten-Debatte bereits vergangenes Jahr. Es stellte sich heraus, dass bis zum Beginn der Corona-Krise niemand wusste, wie viele Intensivbetten es hierzulande tatsächlich gab. Auch nicht, wie viele dieser Betten für die invasive Beatmung geeignet waren.
Dann begann das große Zählen. Durch die Einführung des Intensiv-Registers der DIVI erhielt man erstmals eine Übersicht zu belegten und freien Intensivbetten – und es wurden Diskrepanzen deutlich. Erst war das Bundesgesundheitsministerium von insgesamt 29.262 Intensivbetten ausgegangen.
Tatsächlich gab es aber nur 26.150 Betten, wie sich im Zuge einer Recherche von Kontraste herausstellte. „Insgesamt existierten demnach vor Corona also rund 3100 Betten weniger als vom BMG angenommen“, berichtete damals die Tagesschau. Doch selbst nach dieser Korrektur blieb noch eine Differenz von 4.200 Betten bestehen. Die Frage ist: Wo sind sie hin?
Seitdem sind die verschwundenen Betten Thema in Diskussionen, wenn es um die Kapazitäten in der deutschen Versorgung und Hilferufe der Intensivmediziner geht. Sogar Behauptungen zu einem angeblich systematischen Abbau von Betten wurden vergangenes Jahr im Netz verbreitet und kursieren nach wie vor in den sozialen Medien. Aussagen wie „So schlimm kann es nicht sein, wenn während einer Pandemie verfügbare Betten abgebaut werden“ liest man so oder so ähnlich in dem Zusammenhang häufig. Umso wichtiger ist es, sich realistische Gründe für die Zahlen-Diskrepanz anzuschauen.
Einer von mehreren Aspekten, der in der Diskussion über die Betten-Zahl berücksichtigt werden sollte, ist die Umstellung bei der Erfassung, die laut DIVI am 3. August 2020 vorgenommen wurde. Ab diesem Zeitpunkt waren Kliniken dazu verpflichtet, nicht nur belegbare und freie Betten, sondern auch ihre Notfallreservekapazität zu melden. Damit sind Intensivplätze gemeint, die innerhalb von sieben Tagen aktiviert werden könnten, wenn es zum Notfall-Szenario kommt. „Die Daten legen nahe, dass mit Einführung der Möglichkeit, die inaktiven Notfallreservekapazitäten angeben zu können, ein Teil der vorig als frei gemeldeten Betten nun als Notfallreservekapazität gemeldet wird“, lautete die Erklärung seitens DIVI.
Doch es gibt noch weitere Punkte, die hier eine wesentliche Rolle spielen. „Kein Intensivbett ist ‚verschwunden‘“, antwortet Dr. Gerald Gaß von der Deutschen Krankenhausgesellschaft auf Anfrage von DocCheck. „Im Gegenteil, seit Beginn der Pandemie haben die deutschen Krankenhäuser massiv Intensivkapazitäten aufgebaut“, so der DKG-Vorstandsvorsitzende. „Vor dem Ausbruch der Pandemie verfügten die Krankenhäuser über rund 28.000 Intensivbetten, davon etwa 22.000 mit Beatmungsmöglichkeit. Seit etwa Mitte 2020 zählen wir etwa 28.000 Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit und eine schwankende Zahl zwischen 10.000 und 12.000 Betten als Reserve“, wurde dazu kürzlich ein DKG-Sprecher in den Nürnberger Nachrichten zitiert.
In seiner Erklärung an DocCheck zum Betten-Rückgang geht Gaß unter anderem auf die Personaluntergrenzen beim Pflegepersonal ein, die zwischenzeitlich ausgesetzt und dann wieder eingeführt worden waren. „Die Verringerung in der Intensivbettenstatistik erklärt sich u.a. mit der Wiedereinsetzung bzw. Ausweitung der Pflegepersonaluntergrenzen auf den Intensivstationen, deutlich höherem Pflegebedarf von Covid-19-Patient*innen und Personalausfall durch Krankheit oder Quarantäne. Denn Intensivbetten benötigen immer auch das entsprechende Personal, um sie zu betreiben. Trotz allem verfügt Deutschland pro Einwohner über so viele Intensivbetten wie kaum ein anderes Land.“
Nicht von der Hand zu weisen ist aber noch ein weiterer Faktor, der beim Thema Intensivbetten gerne unerwähnt bleibt: Geld. „Warum Bundesregierung und GKV-SV das hier hinnehmen, ist mir wirklich unbegreiflich: Die Intensivkapazitäten sind seit Monaten aus zwei Richtungen unter Druck: Die Zahl der Covid-Patienten steigt und es ‚verschwinden‘ mit jeweils 50.000 Euro aus Kassenmitteln geförderte Betten“, twittert ein Gesundheits-Politiker (Bündnis 90/Die Grünen).
Die These, wonach in der zweiten Welle zu viele Betten gemeldet wurden, um von der Bettenpauschale zu profitieren, erscheint vielen Kritikern plausibel. Immerhin gab es pro gemeldetem Bett 50.000 Euro. Ein weiterer Aspekt ist hier relevant: Dieser Betrag wurde nicht nur für zusätzliche Betten, sondern auch für die Aufrüstung von Betten bezahlt, wie dieser Auszug der Recherche deutlich macht:
„Die 50.000 Euro Fördermittel pro Intensivbett seien auch dann geflossen, wenn ein schon vorhandenes Intensivbett lediglich ‚aufgerüstet‘ und mit einem Gerät für invasive Beatmung ausgestattet wurde. Damit werde kein zusätzliches Intensivbett geschaffen, sondern ein schon vorhandenes Bett rücke dann lediglich vom Bereich ‚low care‘ in den Bereich ‚high care‘ auf. Für wie viele Betten das zutrifft, ist allerdings unklar.“
Wie ernst die Lage und wie sehr unser Gesundheitssystem im Moment tatsächlich am Limit ist, dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Epidemiologe Klaus Stöhr betont, dass Deutschland in der Pandemie so gut da stehe wie kein anderes europäisches Land: „In England und Irland [gibt es] weniger als 1/4 der Intensivbetten als in Deutschland“, twitterte er unlängst.
Prof. Christian Karagiannidis sieht hingegen dringenden Handlungsbedarf. Er ist Leiter des ARDS- und ECMO- Zentrums Köln-Merheim und wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters. In einem Videobeitrag erklärte er am Mittwoch, warum die DIVI vor überfüllten Intensivstationen warnt, auch wenn noch Betten zur Verfügung stehen.
„Wir haben seit Beginn der Pandemie heute den Höhepunkt der Auslastung ALLER Intensivbetten erreicht (rote und gelbe Kurve Fig.1). Das Personal bricht weg (Fig.2). Selbst wenn es zu einem harten Lockdown kommt, steigen die Zahlen weiter für 10–14 Tage. Es muss JETZT was passieren“, twitterte er am 10. April.
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Bildquelle: Grant Richie, unsplash