Unterschätzt die Aerosol-Übertragung von SARS-CoV-2 nicht, warnen US-Forscher. Sie nennen 10 Gründe, warum Aerosole der Übertragungsweg Nummer 1 sind.
Das Thema Aerosole rückt nun wieder mehr in den Fokus seit deutsche Aerosolforscher Kritik an der aktuellen Maßnahmen-Strategie im Kampf gegen Corona geäußert haben (wir berichteten). „Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass DRINNEN die Gefahr lauert“, heißt es in ihrem offenen Brief. Die Aerosol-Übertragung werde immer noch unterschätzt, so die Forscher.
Mit ihrer Einschätzung sind sie nicht allein. Ein Team aus Medizinern und Wissenschaftlern hat jetzt zahlreiche Studien durchforstet und 10 Gründe aufgeschrieben, warum Aerosole der Übertragungsweg Nummer eins sind. Ihr Text ist in The Lancet erschienen.
Corona-Ausbrüche auf Kreuzfahrtschiffen, während Chroproben oder auf Feiern – meist ist ein einziger Superspreader für die Infektion zahlreicher anderer Menschen verantwortlich. Superspreader sind infizierte Personen, die besonders viele winzige infektiöse Tröpfchen beim Atmen und Sprechen ausscheiden. Es gibt Schätzungen, die besagen, dass 10 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Ansteckungen verantwortlich sein könnten.
Detailierte Untersuchungen solcher Superspreading-Events geben eindeutige Hinweise darauf, dass sich das Virus dabei vornehmlich über Aerosole überträgt. Der Superspreader infiziert dabei am ehesten Personen, die sich unmittelbar in seiner Nähe befinden, doch auch Menschen in größerer Entfernung. Über kontaminierte Oberflächen oder klassische Tröpfcheninfektionen sind diese nicht erklärbar, sondern eher über die Verdünnung der ausgeatmeten Aerosole mit zunehmender Entfernung von einer infizierten Person (siehe auch Punkt 10).
Für SARS-CoV-2 gibt es drei bekannte Übertragungswege:
Mehr zu Superspreadern lest ihr hier:
Das Virus scheint in Aerosolwolken weite Strecken zurücklegen zu können. So gibt es Berichte aus Quarantäne-Hotels, in denen sich Personen in benachbarten Zimmern angesteckt haben, die aber nie in direktem Kontakt zueinander standen. Übertragungen über Oberflächen konnten die Autoren mittels detektivischer Nachforschungen und Rekonstruktionen inklusive Kameraauswertungen ausschließen.
Die Aerosolübertragung scheint in diesem beispielhaften Fall die einzig logische Erklärung zu sein: Zum Zeitpunkt, als die infizierte Person im Flur getestet wurde, standen die Türen beider Hotelzimmer für rund eine Minute offen. Die Analyse des Luftdrucks in Zimmern und Flur legt nahe, dass ein Luftaustausch zwischen Zimmern und Flur stattgefunden haben muss. Dies scheint ausgereicht zu haben, damit die infektiöse Aerosolwolke des einen Zimmers ihren Weg zum nächsten gefunden hat.
Mehr zum Thema:
Die asymptomatische oder präsymptomatische Übertragung von SARS-CoV-2 macht wahrscheinlich mindestens ein Drittel aller Infektionen aus. Diese Personen husten oder niesen nicht (oder wenig) und setzen damit keine größeren Tröpfchen frei, Aerosole hingegen schon – Messungen zeigen, dass beim Sprechen Tausende von Aerosolpartikel, aber nur wenige große Tröpfchen entstehen. Auch das spricht für einen vorwiegend luftübertragenen Übertragungsmodus.
Die Übertragung von SARS-CoV-2 in Innenräumen ist viel höher als im Freien und häufiges Lüften reduziert die Übertragung erheblich. Beide Beobachtungen sprechen für die Aerosolübertragung und eher weniger für die Übertragung über größere Tröpfchen, die schnell zu Boden fallen, oder kontaminierte Oberflächen.
Lest hier mehr zur Ansteckungsgefahr draußen:
In Kliniken und Pflegeheimen, in denen strenge Vorkehrungen gegen Tröpfchenausbreitung, aber nicht gegen Aerosole getroffen wurde, kam es zu nosokomialen Infektionen, wie unter anderem die Studie von Klompas et al. nahelegt.
Es ist gelungen, infektiöse SARS-CoV-2-Viren in der Raumluft nachzuweisen – dabei wird versucht, aus Proben der Luft Viren zu kultivieren. Das ist eine anspruchsvolle Technik, weswegen einige Studien dies nicht nachweisen konnten.
Die infektiösen Viren in der Raumluft wurden auch bei COVID-19-Patienten gefunden, bei denen keine Aerosol-erzeugenden medizinischen Maßnahmen wie eine Intubation vorgenommen wurde.
Lest mehr dazu hier:
SARS-CoV-2 konnte in Luftfiltern und Lüftungsschächten von Kliniken mit COVID-19-Patienten nachgewiesen werden. Diese Orte kann das Virus nur per Aerosolwolke erreichen. Ob die Infektionen in Restaurants, Großraumbüros, Schiffen oder Flugzeugen stattfinden – in regelmäßigen Abständen wird seit Ausbruch der Pandemie über Ansteckungen berichtet, wo eine Verbreitung des Virus über die Lüftungsanlage vermutet wird.
Erst vor wenigen Tagen wurde erneut über einen solchen Fall berichtet: In einem Flugzeug, das am 4. April von Neu Delhi nach Hong Kong flog, wurden zunächst 47 Passagiere danach positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Nach einer 12-Tages-Quarantäne der Fluggäste kamen noch 22 neue positive Tests hinzu.
Zur aerogenen Infektion via Lüfungsanlagen lest ihr hier mehr:
Studien wie zum Beispiel jene von Kutter et al. haben gezeigt, dass infizierte Käfigtiere andere Tiere anstecken können, deren Käfige nur über einen Luftkanal verbunden sind. Auch hier kann eine Übertragung nur durch Aerosole erklärt werden.
Bislang gibt es keine Studie, die starke oder konsistente Beweise liefert, um die Hypothese der luftgetragenen SARS-CoV-2-Übertragung zu widerlegen.Zwar gibt es Berichte, in denen Personen sich nicht mit SARS-CoV-2 ansteckten, obwohl sie die Luft mit infizierten Personen geteilt haben. Aber diese Situation könnte auch dadurch erklärt werden, dass infizierte Personen unterschiedliche Mengen an Viren ausscheiden (siehe Punkt 1) und bestimmte Umgebungsbedingungen vorlagen – insbesondere ausreichende Lüftung.
Dass die Aerosol-Übertragung vernachlässigt wird, hat wohl auch historische Gründe. Einflussreiche Infektiologen haben Anfang des 20. Jahrhunderts viel zum Verständnis von Infektionskrankheiten beigetragen, indem sie Zusammenhänge richtig erkannten. Dabei wurde die Ansteckung über Tröpfchen zu einer unumstößlichen Tatsache, die keinerlei Beweise benötigte.
Über die Zeit wurde die Tröpfcheninfektion zum Dogma der Übertragung von Atemwegserkrankungen. Diese Tatsache wird auch heute noch von vielen Experten nicht hinterfragt. Lange hat man angenommen, dass so eine Übertragung durch unmittelbare Nähe große Atemtropfen oder Kontaktflächen voraussetzt. Mit dieser fehlerhaften Annahme leugnete man jahrzehntelang die Aerosol-Übertragung von Tuberkulose und Masern – inzwischen weiß man, dass beide Erreger vorwiegend über Aerosole übertragen werden.
So scheint es auch bei SARS-CoV-2 zu sein: Die leichte Ansteckung zwischen Menschen, die sich in unmittelbarer Nähe zueinander befinden, wurde lange als Beweis für die Übertragung von SARS-CoV-2 durch große Atemtröpfchen angeführt. Die Übertragung in unmittelbarer Nähe in den meisten Fällen und die Ferninfektion in einigen wenigen Fällen bei gemeinsamer Nutzung der Luft lässt sich jedoch eher durch die Verdünnung der ausgeatmeten Aerosole mit zunehmender Entfernung von einer infizierten Person erklären.
Mehr zum Tröpfchen-Dogma lest ihr hier:
Bildquelle: David Clode, unsplash