Seit 2019 arbeite ich als Assistenzärztin in der Anästhesie und bin somit mit meinem Berufsstart direkt in die Corona Krise hineingerutscht. Ich arbeite in einem mittelgroßen Krankenhaus in Norddeutschland im Zentral-OP und betreue Patienten perioperativ und führe Narkosen durch.
Wenn ich mich an den Anfang der Pandemie zurückerinnere, dann imponiert ein Gefühl der bösen Vorahnung. Der allererste von vielen Lockdowns stand vor der Tür. Das Virus war wie eine dunkele Bedrohung. Wir alle kennen die Bilder und Berichte aus den kollabierten italienischen Intensivstationen. Wird es bei uns auch so werden? Wie wird die Klinikleitung reagieren? Welche Vorbereitungen werden getroffen?Bereits damals kam für mich die erste Ernüchterung. Ich sah eine Krise auf uns zurollen und erwartete Handlung aber es geschah gefühlt nichts. Viel zu spät wurde das Virus thematisiert. Halbherzig wurde ein „Notfallplan“ für eine eventuelle Überlastung der Intensivstation geschrieben, gekoppelt an der Zahl der zu betreuenden beatmungspflichtigen Coronapatienten. Bis zum Limit wurde fleißig weiter operiert und das waren bei weitem nicht nur lebensnotwendige Operationen, sondern auch OPs, die verschiebbar gewesen wären. Irgendwann kam die gesetzliche Anordunung Intensivkapazitäten zu schaffen und dann musste auch unsere Klinik die Operationszahl herunterschrauben und in den Notbetrieb wechseln.
Unsere Klinik hatte Glück, während der Anfangszeit blieben wir von der Masse an Coronapatienten verschont. Eine ECMO (Herzlungenmaschine) als ultima ratio Therapie des Lungenversagens besitzen wir nicht, so dass schlussendlich an diesem Punkt die Patienten von unserer Intensivstation in den Maximalversorger verlegt werden müssen.
Aber vielleicht war dieses Glück ironischerweise auch ein Unglück, es führte dazu, dass die Gefahr der Pandemie durch die Klinikleitung und auch bei bestimmten Personal unterschätzt wurde. Noch bevor die Fallzahlen zurückgingen und der Lockdown vorbei war, wurde die OP Kapazität hochgefahren.
Am Anfang gab es weder Schnelltests noch genügend Schutzmaterial. Die FFP2-Masken waren Goldstaub, FFP3 bekam man quasi nie zu sehen. Man war sich nicht sicher, ob ein Patient Corona hatte, man handelte auf Verdacht. Die Narkoseeinleitung bei Corona Patienten ist besonders. Man muss natürlich auf persönlichen Schutz durch adäquate Schutzausrüstung achten und man soll den Kontakt mit infektiösen Aerosolen durch ein schnelles Intubationsverfahren mittels Videolaryngoskopie verringern. Eine Situation ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.
Ich bekam einen Patienten mit dem Verdacht eines eingeklemmten Leistenbruchs. Ich sollte „mal schnell“ zu diesem Patienten in die Notaufnahme. Beiläufig wurde erwähnt, dass er „irgendwie wegen Corona“ isoliert ist. Nach ärztlicher Detektivarbeit bekam ich heraus, dass dieser junge Mann sich gerade in Quarantäne befand, da seine Ehefrau, die im selben Haushalt lebt, an Corona erkrankt war. Noch bevor ich fertig war die komplette Krankengeschichte zu erheben und den Patienten über die Narkose aufzuklären, wurde der Patient für den OP abgeholt. Etwas verdutzt beeilte ich mich die Unterlagen zu vervollständigen und ging dann auch in den OP. Ich schleuste mich in den OP ein und musste feststellen, dass der Patient ohne Information über seinen potentiell infektiösen Zustand und ohne Sicherheitsvorkehrungen in den OP eingeschleust wurde. Das Personal, welches schon Kontakt zu dem Patienten hatte, wurde selbstverständlich auch nicht vom OP-Manager informiert, das holte ich dann nach. Mit Puls um die 200 und vor Wut kochend versuchte ich mit meiner Anästhesiepflege die notwendige persönliche Schutzausrüstung zusammen zu suchen und die besondere Narkoseeinleitung vorzubereiten. Es klingelte das Telefon, der OP Manager war am Apparat und fragte, was so lange dauerte, schließlich sei der Patient schon eine Weile da. Wieso wäre die OP noch nicht gestartet? Das war das erste Mal, dass ich vor einem Vorgesetzten im Ton entgleiste. Ich wies ihn unfreundlich darauf hin, dass wir uns verdammt noch mal die Zeit nehmen, um für die persönliche Schutzausrüstung zu sorgen. Er entgegnete nur, dass ich ja „nicht gleich patzig werden müsse“ und legte auf.Die OP wurde durchgeführt und es kristallisierte sich bald heraus, dass niemand einen Gedanken daran verschwendet hatte, was mit dem Patienten danach passiert. Der Chirurg wollte ihn nicht und sah sich auch nicht verantwortlich. Er ging als die OP vorbei war. Der Patient gilt als potentiell infektiös, also kann er zur Nachbetreuung nicht in den Aufwachraum zu den anderen operierten Patienten. Es endetet damit, dass ich alleine im OP blieb, den Patienten nachbetreute, einen Platz auf der Coronastation besorgte und diesen Patienten dann selbst auf diese Station verlegte. Das geschah natürlich auch weit nach meinem Feierabend in den offiziell nicht vorhandenen Überstunden.
Der OP Manager ist ein Angestellter der Geschäftsführung. Er sorgt dafür, dass die OP Kapazität möglichst wirtschaftlich genutzt wird. Wie ich in meiner Zeit in diesem Krankenhaus schmerzlich erfahren musste, geht es weder darum Patienten gut zu versorgen, noch auf das Personal zu achten. Doch diese Situation war ein neuer Tiefpunkt. Das Personal wurde bewusst gefährdet, um Zeit zu sparen. Diese Telefonanrufe mit dem Drängeln sind keine Seltenheit. Man arbeitet unter ständigem gemachten Zeitdruck. Es fühlt sich an wie in einer Operationsfabrik. Ich muss jetzt nicht erwähnen, dass die Qualität der Behandlung bei dem Zeitstress auf der Strecke bleibt. Auch jetzt ist die Situation keinesfalls verbessert. Jetzt haben wir zwar Schnelltests und mehr Schutzausrüstung, trotzdem wird unverantwortlich viel operiert. Aktuell sind in Deutschland Infektionszahlen auf dem höchsten Plateau seit Beginn der Corona-Pandemie. In unserem Haus werden nach wie vor große OPs gefahren, z.B. Adipositaschirurge, große Gelenkersätze, sogar elektive plastische Chirurgie wurde durchgeführt, alles auf Anordnung des Geschäftsführers. Das sind verschiebbare nicht lebensnotwendige Operationen. Es geht um pure Geldmacherei auf Kosten des sowieso schon belasteten Personals und auf Kosten der Patientenversorgung.
Ich habe aus altruistischen Motiven Medizin studiert.Ich wollte und will den Menschen und der Gesellschaft helfen. In der Klinik im OP habe ich das Gefühl ich helfe vor allem dem Geschäftsführer beim Geldverdienen und das bei einer extrem hohen Arbeitsbelastung mit 24-Stunden-Diensten und 50-60 Arbeitsstunden die Woche. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden zu kündigen.
Leider ist dieser Zwang zum wirtschaftlichen Arbeiten ein Strukturproblem. In jeder Klinik und auch jeder Arztpraxis wird man früher oder später damit konfrontiert. Ich kann und will das aktuell nicht mehr, deswegen habe ich mich als Ärztin im Gesundheitsamt beworben und werde ggf. dort als Ärztin arbeiten. Ob ich dann irgendwann den Schritt zurück in die Klinik gehe, weiß ich aktuell noch nicht. Fakt ist, dass diese Erfahrungen mich und meine Sicht auf den Arztberuf in der heutigen Zeit nachhaltig verändert haben.
Krankenhäuser sollten nicht wie Unternehmen nach schwarzen Zahlen geführt werden. Vor allem das jüngere und motivierte Personal ist nicht mehr bereit die Umstände zu ertragen. Die Kündigungswelle hat bereits begonnen. Ein Kollaps des Systems steht kurz bevor, es ist Zeit, dass sich etwas grundlegend verändert.