Weniger ist mehr – unter diesem Motto sollten künftig alle Therapien stehen. Internisten fordern, Diagnose- und Therapieoptionen konsequent und kritisch zu hinterfragen und sie auf das richtige Maß zu reduzieren: sinnvoller Ansatz oder sinnloses Sparpaket?
„Gemeinsam klug entscheiden“ – unter diesem Motto warnt die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) vor überflüssigen Diagnosen und Therapien. Ihre Idee: Alle internistischen Schwerpunktgesellschaften sollen fünf wichtige Bereiche mit Über- beziehungsweise Unterversorgung identifizieren. Nach dem Vorbild von „Choosing Wisely“ planen sie einen optimierten Dialog zwischen Ärzten und Patienten. Das erklärte Ziel: Diagnose- und Therapiepläne besser erklären, besser kommunizieren, um Laien zu erläutern, warum weniger manchmal mehr ist. Momentan erwarten Patienten bei jedem Praxisbesuch eine Therapie, wenigstens aber ein Rezept, um Medikamente abzuholen. Ärzte wiederum berufen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Leitlinien. Entsprechende Dokumente raten zum Handeln, geben aber kaum Anhaltspunkte, wann Patienten eben nicht von der Therapie profitieren. Damit nicht genug: Health Professionals haben momentan kaum Zeit für ausufernde Erklärungen. Sie fordern eine angemessene Vergütung – gerade bei gezieltem Therapieverzicht, ohne sich zum verlängerten Arm von Krankenkassen zu machen. Jetzt liegen erste Ideen vor.
Dazu ein Blick auf die Kardiologie. Laut Professor Dr. Gerd Hasenfuß, Göttingen, werden in kaum einem Land so viele Stents gesetzt wie in Deutschland. Koronardilatationen gelten bei Patienten ohne Symptomatik und ohne Ischämienachweis als obsolet. Ob sich das Risiko späterer Myokardinfarkte tatsächlich verringert, bleibt fraglich. Durch Techniken der Bildgebung ließen sich wertvollere Aussagen treffen, heißt es weiter. Systematische Angiografien als Kontrolle nach Koronarinterventionen gehören ebenfalls gestrichen. Und bei Patienten mit einer geschätzten Lebenserwartung von weniger als zwölf Monaten lautet die Empfehlung, keinen internen Defibrillator zu implantieren. Noch ein Blick auf Medikamente: Leiden Patienten an der koronaren Herzkrankheit, profitieren sie nicht von Klasse-I-Antiarrhythmika.
Auch in der Onkologie gehören Überdiagnosen und Übertherapien zum täglichen Brot. Professor Dr. Michael Hallek, Köln, nennt mögliche Problemfelder. Bei Patienten, die aufgrund von Lymphomen behandelt worden sind, führen Kollegen Nachsorgeuntersuchungen per Sonographie und/oder Computertomographie zu engmaschig durch. Da 60 bis 90 Prozent aller Rezidive mit klinischen Symptomen auftreten, ergeben sich aus häufigen Untersuchungen nicht zwangsläufig frühere Diagnosen. Hinweise auf ein höheres Gesamtüberleben fehlen jedenfalls. Das trifft auf gesunde Patienten ohne erhöhtes Darmkrebs-Risiko genauso zu – Koloskopien in Intervallen von weniger als zehn Jahren bringen keinen Benefit. Zielgerichtete Krebstherapien ohne Nachweis der Mutation machen ebenfalls wenig Sinn. Kritik äußern Onkologen auch hinsichtlich des dritten oder vierten unterschiedliche Chemotherapie-Regimes, falls sich in den ersten beiden Anläufen kein Erfolg eingestellt hat.
Nicht zuletzt sieht Professor Dr. Gerd Fätkenheuer, Köln, in der Gabe von Antibiotika bei Patienten mit akuter Bronchitis wenig Sinn. Kein Einzelfall: Laut einer Veröffentlichung in „JAMA“ erhielten 60 bis 80 Prozent aller Patienten entsprechende Wirkstoffe bei diesem Krankheitsbild – trotz fehlender Hinweise auf bakterielle Infekte. Antibiotika machen bei asymptotischen Bakteriurien ebenfalls wenig Sinn. In diesem Zusammenhang werden auch serologische Tests auf Borrelien oder Chlamydien bei unspezifischer Symptomatik als Beispiele der Überversorgung genannt. Mit sogenannten Antibiotic Stewardships (ABS) gelingt es, die Einnahmehäufigkeit im stationären Bereich um maximal 40 Prozent zu senken. Zu ABS-Teams gehören ein Infektiologe, ein Fachapotheker, ein Facharzt für Mikrobiologie und der Hygienebeauftragte des Krankenhauses. Gleichzeitig optimiert das interdisziplinäre Team die Therapie.
Bei gesetzlichen Krankenkassen stoßen entsprechende Vorschläge auf helle Begeisterung – wohl wissend, dass Ärzte Schwerstarbeit zu bewältigen haben. „Es ist sicherlich häufig anstrengender für einen Arzt, einen Patienten von einer Woche Bettruhe zu überzeugen, als ein paar Tabletten zu verordnen, obwohl die Bettruhe manchmal die bessere Therapie ist“, sagte ein Sprecher des GKV-Spitzenverbands. Die internistische Initiative hinterfrage zu Recht, „ob nicht in bestimmten Fällen weniger Aktionismus für den Patienten ein Mehr an Genesung für ihn sein kann“. Zuletzt hatte die Techniker Krankenkasse (TK) kritisiert, pro Jahr würden 50.000 Patienten aufgrund von Rückenschmerzen unnötig geröntgt. In vielen Fällen gingen entsprechende Beschwerden innerhalb von sechs Wochen zurück. Patienten nehmen außer der Strahlenbelastung selbst Übertherapien in Kauf. Kritik kam von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). „Ärzte haben keine finanziellen Anreize dafür, mehr Röntgenaufnahmen zu machen als notwendig“, stellte KBV-Chef Andreas Gassen klar. Der Konflikt zwischen sinnvollen Einsparungen und ökonomischen Zwängen ist einmal mehr in vollem Gange.