Der junge Mann entscheidet sich nach unserem Aufklärungsgespräch doch gegen das Astra-Vakzin. Arzthelferin und Schichtleitung sind empört. „Na gut, dann mach ich's“, sagt der Impfling mit rotem Gesicht.
Seit einiger Zeit arbeite ich als Ärztin im Impfzentrum. Es gibt einige Aspekte, die meiner Ansicht nach noch besser ablaufen könnten. Bestimmt ist die Lage von Impfzentrum zu Impfzentrum verschieden. Die Kommunikation mit Impflingen ist bei uns nicht immer optimal – dazu komme ich gleich. Beginnen möchte ich mit dem Prüfungsprozedere, denn auch das weist teilweise Lücken auf.
Die impfwilligen Personen melden sich online für einen Impftermin an und geben dabei ihre, von ihnen selbst eingeschätzte Priorisierung an. Bei der Online-Anmeldung kontrolliert noch niemand. Es wird ein Termin erteilt und bei Wahrnehmung des Termins müssen die entsprechenden Unterlagen vorliegen. Nun ist es so, dass die Unterlagen im Impfzentrum zunächst von vollkommen ungeschultem Personal „geprüft“ werden. In der Regel verstehen die ersten Kontaktpersonen überhaupt nichts von Medizin. So erscheinen in den Vordiagnosen auch Erkrankungen wie „Vorhautflimern“.
Die Impflinge legen den medizinischen Laien und auch nicht in der Priorisierung sonderlich geübten Menschen die Unterlagen vor, die nur oberflächlich geprüft werden.
Anschließend kommt der Patient zum Arzt. Dort zeigen sich allerlei seltsame Dinge: Eine Dame gab an, eine der beiden zur Impfung zugelassenen Kontaktpersonen ihrer schwangeren Tochter zu sein. Bei genauer Durchsicht meinerseits zeigt sich, dass der Geburtstermin 4 Wochen zurückliegt und auf Nachfrage wurde bejaht, das Baby sei schon da. Plötzlich war dann aber auch die andere Tochter schwanger, von der liegen aber keine Unterlagen vor.
Formal besteht somit kein Anrecht auf die Impfung. Nun sitzt sie da, voller Hoffnung und Erwartung und natürlich auch Angst, abgelehnt zu werden. Es erfolgt die Rücksprache mit der Schichtleitung welche keine Lust hat auf Diskussionen, somit wird die Patientin durchgewunken.
Der nächste Herr ist ein 45 Jahre alter Mann, der vom Hausarzt eine Bescheinigung nach Paraghraph 3 Absatz 2 der Coronavirus-Impfverordnung erhalten hat. Dies wird grundsätzlich von den medizinischen Laien am Eingang immer durchgewunken. Auf meine Nachfrage, was er denn für eine Erkrankung habe, sagte er „Nierenzysten“. Sonst nichts. Keine Niereninsuffizienz. Ein Arztbrief liegt nicht vor. Keine medizinischen Dokumente. Auch hier wieder Rücksprache mit der sogenannten Schichtleitung. „Bisschen wenig … ach komm, es müssen eh alle geimpft werden.“
Ich habe ein ungutes Gefühl und würde ihn gerne wegschicken, zu unfair erscheint es mir – zum Beispiel gegenüber meinen Eltern, die trotz schwerer Krankheit noch keinen Termin erhalten haben. Wegschicken würde Diskussionen geben – und die Schichtleitung sagte Ja … also weiter. Patient wollte auch AstraZeneca, welches ja eh unter die Leute muss, also wird er geimpft, nach ausführlicher Aufklärung. Eigentlich kann man doch froh sein, über jeden Menschen der sich impfen lassen will, Priorisierung hin oder her, oder? Die Moral meldet sich wieder zu Wort.
Der nächste Patient bereitete in anderer Hinsicht moralische Probleme. Ein 25-jähriger Mann, der seinen Großvater mitversorgt. Die Unterlagen waren astrein, die Indikation stand. Nun klärte ich ihn darüber auf, dass der am entsprechenden Tag zu verimpfende Impfstoff von AstraZeneca sei und dieser von der STIKO für unter 60-Jährige nicht mehr empfohlen wird. Er würde den Impfstoff von Pfizer bekommen, müsse jedoch einen neuen Termin dafür ausmachen.
Wir redeten lange über Risiken und Nebenwirkungen und letztendlich entschloss er sich, der Empfehlung der STIKO zu folgen und sich nicht mit AstraZeneca impfen zu lassen. So begleitete ich ihn zum Checkout, legte die Unterlagen dem dort sitzenden Personal vor und sagte, der Patient wünscht keine Impfung mit AstraZeneca. Nun begann eine Arzthelferin um die 40 Jahre, in großen Tönen darüber zu schimpfen, dass sie das unmöglich fände und sie schließlich auch mit AstraZeneca geimpft wurde und es nicht sein könne, dass man das jetzt ablehnt. Auch die Schichtleitung meldete sich zu Wort und erklärte in 15 Sekunden, dass das Risiko zu erkranken höher sei als die äußerst seltene Nebenwirkung der Sinusvenenthrombose.
Der Patient lief rot an, die ganze Aktion fand unter den Augen der bereits geimpften Personen statt und sagte mit leiser Stimme: „Na gut, dann mache ich es.“ Ich schaute ihn an, fragte nochmal, ob er sicher sei, er nickte und wir gingen wieder in die Kabine. Dort teilte er mir mit, dass er die Aktion der Dame unmöglich fand und mir in unserem ausführlichen Gespräch vertraut hat und sich eigentlich sicher war, aufgrund der STIKO-Empfehlung die Impfung nicht machen zu wollen. Er sah bedrückt aus. Ich sagte ihm klar, dass er sich nicht überreden lassen soll, doch das Kind war bereits in den Brunnen gefallen.
Er unterschrieb zwei Aufklärungen, bedankte sich herzlich und aufrichtig bei mir und ging sich die Impfung holen. Es tat mir sehr leid. Als nächster Schritt folgte das telefonische Gespräch mit der Schichtleitung als auch mit der Leitung der Verwaltung mit klarer Ansage meinerseits: Wenn es das Ziel sein sollte, den Impfstoff von AstraZeneca mit aller Gewalt und gegen geltende Empfehlungen der STIKO trotz ärztlicher Aufklärung unter die Leute zu bringen, dann werde ich jetzt sofort das Impfzentum verlassen, denn bei sowas hört es auf. Ich lasse mich dazu hinreißen, die Prioritätsgruppen nicht einzuhalten, das ist das eine. Aber Menschen entgegen Empfehlungen Druck zu machen – das ist das andere. Auch 130 Euro die Stunde erleichtern mein Gewissen in so einem Fall wahrhaftig nicht.
Die Frage nach Moral und Sinn begleitet uns in Zeiten von Corona ständig. Und zwar in all seinen Facetten. Ob es nun um die Abläufe im Impfzentrum geht oder um Hygiene-Maßnahmen, Urlaube, Quarantäne-Regeln, Querdenker-Demos, gefälschte Impfpässe oder darum, dass Israel an Pfizer sehr viel Geld gezahlt hat. Auch eine Bemerkung vom Gesundheitsamt wird mir hier noch sehr lange in Erinnerung bleiben: Man solle während der Quarantäne von Kindern im eigenen Haushalt möglichst Abstand von ihnen halten – getrennte Küche und Bad, auch wenn das Kind erst 4 Jahre alt ist.
All diese Dinge lassen sich sicherlich moralisch hinterfragen. Was ich in Zeiten wie diesen aber vor allem immer wieder bemerke, ist: Jeder ist sich selbst der Nächste.
Bildquelle: mohamed_hassan, pixabay