Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall eines Impfschadens sorgte 2017 für Aufruhr. Im Verfahren gegen einen Impfstoff-Hersteller reichte ein Indizienbündel als Beweismittel. Man könnte annehmen, Ärzte würden seit dem Urteil öfter auf Schadensersatz verklagt. Stimmt das?
Im Frühsommer 2017 gab es einen Aufschrei in Wissenschaft und Forschung. Der Grund? Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Dieser erkannte in einem Verfahren gegen einen Impfmittel-Hersteller wegen eines möglichen Impfschadens ein „Bündel von Indizien“ als Beweismittel an. Das Urteil sorgte für Aufregung. Man fürchtete, dass Impfgegnern damit ins Horn geblasen werde und Schadensersatzansprüche „aus dem Blauen heraus“ geltend gemacht werden könnten.
Das Urteil wird von Kritikern waghalsig genannt. Es öffne willkürlichen Behauptungen Tür und Tor, warnen sie. Ärzte haben Angst, künftig leichter wegen eines vermeintlichen Behandlungsfehlers Schadensersatz leisten zu müssen. Immer wieder wird in unterschiedlichen Zusammenhängen von verbraucherfreundlichen Urteilen berichtet. In Deutschland erfuhren die Rechte der Verbraucher durch die große Schuldrechtsreform zu Beginn unseres Jahrtausends eine besondere Stärkung. Dies lässt sich anhand eines Vergleichs verdeutlichen: Das alte Gesetz entsprach nicht mehr unserer Welt mit hochtechnisierten Gütern. Die Gesetzgeber des alten Rechts hatten handbetriebene Kaffeemühlen vor Augen, heute ist die Mühle ein winziger Teil in schicken Kaffeevollautomaten. Der Verbraucher hat keine Einblicke in komplexe Produktionsabläufe und weiß nicht, was im Inneren von Maschinen abläuft. Wie soll der Käufer beweisen, was überhaupt an dem Ding kaputt ist und ob der letztliche Ausfall auf einem Fehler beruht, der von Anfang an da war. Natürlich griffen die Gerichte ein und halfen, die alten Regelungen entsprechend der geänderten Umstände auszulegen, punktuell wurde auch das Gesetz geändert. Letztlich aber musste das Schuldrecht grundlegend überarbeitet werden. Außerdem galt es, das nationale Recht an die Verbrauchsgüterrichtlinie der EU anzupassen. Das heute geltende Schuldrecht trat 2002 in Kraft. Die Entwicklung hat seither aber nicht stillgestanden. Vieles, was heute normal ist, war 2002 noch nicht, oder nicht genau so auf dem Markt. Daher müssen die Richter auch jetzt prüfen: Was wollte der Gesetzgeber, was hat sich seither geändert, muss dass eine oder andere heute anders ausgelegt werden als vor etwa zehn oder 15 Jahren? Das sollte bedacht werden, bevor man sagt, die Urteile wären „zu“ verbraucherfreundlich. Bezogen auf den Impfschadens-Fall rührt das Entsetzen meines Erachtens auch daher, dass der wissenschaftliche Beweis mit dem vor Gericht zu erbringendem Beweis gleichgesetzt wird. Hier besteht aber ein Unterschied, der vielen zunächst unverständlich ist. MS-Fall: Impfschaden anerkannt In der EuGH-Entscheidung ging es um einen Mann aus Frankreich, bei dem im August 1999, nur einen Monat nach Abschluss einer Grundimmunisierung gegen Hepatitis B, erste Symptome einer Multiplen Sklerose (MS) auftraten. 2000 wurde die Diagnose bei ihm gesichert, 2011 starb er. Der Erkrankte und seine Familie waren sicher, die MS sei durch die Impfung ausgelöst worden und verklagten die produzierende Firma 2006 auf Schadenseratz. 2015 gelangte der Fall zum EuGH. Der Erfolg der Klage hing nicht zuletzt von der europäischen Richtlinie (RL) zur Produzentenhaftung (RL 85/374) ab. Diese EG-Richtlinie legt fest, in welchen Fällen ein Produkthersteller zu haften hat und was der Verbraucher zu beweisen hat. In der Richtlinie steht aber nichts dazu, in welcher Weise der Beweis zu erbringen ist. Deshalb legte der französische Kassationsgerichtshof den Streit dem EuGH vor, um zu klären, welche Beweismittel (z.B. Zeugen, Sachverständige, Urkunden) der Verbraucher vorlegen muss, damit er daraus seine Überzeugung bezüglich des Wahrheitsgehalts gewinnen kann. Zudem wollten die Franzosen wissen, wie sicher die Überzeugung des Gerichts sein muss, damit es eine Behauptung als wahr annehmen kann (Beweismaß). Der EuGH urteilte, dass durch ein Bündel ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien (Beweismittel) sowohl ein Produktfehler als auch ein Zusammenhang zwischen diesem Fehler und einem eingetretenen Schaden nachgewiesen werden kann. Entscheidend sei, ob das angerufene Gericht davon überzeugt ist, dass die vorgelegten Indizien die Schlussfolgerung auf den Fehler und den Zusammenhang mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zulassen (Beweismaß). Der EuGH führt weiter aus: Wenn in Fällen wie hier, in denen die Wissenschaft den Schaden und den Zusammenhang weder sicher belegen noch ausschließen kann, nur sichere und unwiderlegbare Beweise zugelassen wären, könne der Hersteller eines Produkts niemals in Haftung genommen werden. Das „Indizienbündel“ in diesem Fall:
Die Kläger behaupten, diese Tatsachen seien geeignet, ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutungen hervorzurufen
Vor Gericht gibt es nach der Würdigung der Beweise selten die absolute Gewissheit. Das ist in der Wissenschaft anders. Dort ist etwas bewiesen, wenn eine These sich als unumstößlich und absolut wahr erweist. Der Richter hingegen kann so gut wie nie sämtliche Zweifel ausräumen, das wird auch nicht von ihm verlangt. Für deutsche Straf-, Zivil- und Sozialgerichte gilt zunächst übereinstimmend, dass es im Vollbeweis auf die freie Überzeugung des Richters ankommt. Er hat die gesamten Umstände des Falles zu berücksichtigen und auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach freier Überzeugung zu entscheiden. Die Gerichte dürfen dabei gerade nicht darauf abstellen, ob jeder Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausgeschlossen ist. Letztlich muss der Richter entscheiden: Bin ich überzeugt? Habe ich keine Zweifel? Der Bundesgerichtshof (BGH) in ständiger Rechtsprechung hierzu: „Das Gericht darf keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit bei der Prüfung verlangen, ob eine Behauptung wahr und erwiesen ist. Vielmehr darf und muss sich der Richter in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.“ (BGH Urteil vom 06.05.2015, Az: VIII ZR 161/14 Rn. 11 mwN; BGH Strafsenat, Urteil vom 01.07.2008, Az: 1 StR 654/07, Rn. 32) Ähnlich lautet die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG): Im Vollbeweis gilt eine Tatsache als bewiesen, wenn sie in einem so hohen Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Im Zusammenhang mit einem Impfschaden muss dieser Vollbeweis erbracht werden, sowohl bezüglich der Impfung als auch bezüglich einer unüblichen Impfreaktion. Unterschiede zwischen den Gerichten gibt es in Bezug auf den Nachweis des Kausalzusammenhangs. Da wird im Sozialrecht das Beweismaß geringer, es genügt jetzt die „Wahrscheinlichkeit“. Ein Kausalzusammenhang ist nach ständiger BSG-Rechtsprechung dann wahrscheinlich, wenn mehr dafür spricht als dagegen. Das geht so schnell vor deutschen Zivilgerichten nicht, obwohl es auch hier das erleichterte Beweismaß der Wahrscheinlichkeit gibt. Vor unseren Zivilgerichten muss der Zusammenhang zwischen Fehler und Primärschaden im Vollbeweis erbracht werden. Erst wenn es danach z.B. um die Kosten für eine Versorgung mit einem Rollstuhl (Sekundärschaden) geht, gilt das erleichterte Beweismaß der Wahrscheinlichkeit. Es wurden schon viele Verhandlungen zu Impfschäden auch wegen mutmaßlich dadurch hervorgerufener Autoimmunerkrankungen vor deutschen Gerichten verhandelt. Denn vielen fällt es schwer, eine Krankheit bei sich oder dem eigenen Kind hinzunehmen. Doch nicht immer findet sich ein Schuldiger.
Eine menschliche Frage, die Ärzte tagtäglich hören: „Warum trifft es mich?“ Autoimmunerkrankungen gehören zu der Art von Krankheiten, die eher schicksalhaft den einen oder anderen erwischen. Und für viele dieser Erkrankungen sind die Ursachen bis heute nicht zur Gänze geklärt. Sie bieten daher Raum für Spekulationen. So verwundert es kaum, dass gerade Autoimmunerkrankungen immer wieder vor Gericht landen, z.B. mit dem Vorwurf: Ich wurde geimpft, danach wurde ich krank. Viele Klagen auf Anerkennung eines Impfschadens wurden abgelehnt. Insbesondere vor Sozialgerichten wird aber auch immer mal wieder eine anerkannt, so z.B. 2017 bezogen auf ein Guillain-Barré-Syndrom (LSG Sachsen-Anhalt vom 30.08.2017, Az L 7 VE 7/14) oder Multiple Sklerose (VG Kassel, Urteil vom 19.01.2017, Az 1 K 137/13.KS (kostenpflichtig) und SG Landshut, Urteil vom 14.09.2009, Az: S 15 VJ 1/06 (kostenpflichtig). Rechtsgrundlage für die Anerkennnung des Impfschadens war jeweils die sogenannte „Kann-Versorgung“. Die zugrundeliegenden Normen (§ 60 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz i.V.m. § 61 S. 2 Infektionsschutzgesetz) besagen: „Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann […] der Gesundheitsschaden […] anerkannt werden.“
In seinem umstrittenen Urteil weist der EuGH darauf hin, dass die Mitgliedsstaaten die Beweisregelungen (z.B. Beweismittel und Beweismaß) jeweils selber festzulegen haben. Die Richtlinie gebe den Rahmen vor, innerhalb dieses Rahmens könne aber die Produzentenhaftung von Staat zu Staat unterschiedlich und dennoch konform umgesetzt werden. Und das ist die zentrale Botschaft des Urteils – der europarechtlich relevante Rahmen: Dieser Rahmen sei so gesteckt, dass die Anforderung nicht so gering sein dürfen, dass so gut wie nichts bewiesen werden müsse. Ansonsten müsse der Produzent immer haften, solange er keinen Gegenbeweis hat. Damit wäre die Beweislast faktisch umgekehrt. Andererseits dürfen die Anforderungen aber auch nicht so hoch sein, dass der Beweis nie erbracht werden kann (EuGH-Urteil aaO, Rn 28-32). Wenn der EuGH sagt, dass die von den Franzosen vorgeschlagene Vermutungsregelung (Indizienbündel) diesem Rahmen gerecht wird, heißt das: Ihr Denkansatz steht im Einklang mit europäischem Recht. Es heißt aber gerade nicht: Dieser französische Weg ist der einzig richtige Weg (EuGH-Urteil, Rn. 33). Denn laut EuGH hat jeder Staat in dem vorgegebenen Rahmen seinen eigenen Weg zu finden. Was der EuGH jetzt zur Produzentenhaftung urteilte, liegt nahe bei dem, was hierzulande bezüglich des Kausalzusammenhangs bei Sozialgerichten gilt. Wenn in Deutschland ein Kläger seine Forderung auf versorgungsrechtliche Anerkennung eines Impfschadens sozialgerichtlich gewinnt, heißt dies nicht automatisch, dass er vor einem Zivilgericht auch Erfolg hat (z.B. LG Aachen vom 16.03.2011, Az.11 O 296/10, Rn 17 nach justiz-nrw). Ist also die Sorge vieler Ärzte berechtigt? Wird sich im Haftungsprozess viel ändern? Kann sein, muss aber nicht, fest steht bisher noch nichts. Schon heute braucht es auch nach deutscher Rechtsprechung nicht zwingend wissenschaftlich fundierte Beweise. Derzeit liegt die Latte vor hiesigen Zivilgerichten deutlich höher als in Frankreich. Ob sie tiefer gelegt wird, bleibt abzuwarten. Erzwungen wird dies durch das Urteil nicht, denn wie der EuGH sagt: Im vorgegebenen Rahmen sind die Anforderungen an die Beweisführung individuell zu formulieren (EuGH-Urteil aaO, Rn 25 und 33). Das muss nicht EU-weit in der gleichen Weise erfolgen, wie die französischen Richter im besprochenen Fall entschieden haben.